Wie ein Virus das Sommer­semester auf den Kopf stellte

Uni-Präsident Weber zum Corona-Krisenmanagement

Bevor das neue Coronavirus Baden-Württemberg erreichte, kannte Universitätspräsident Professor Michael Weber Pandemien nur aus Hollywood-Produktionen. Doch als die erste Infektionswelle heranrollte, musste sich das Präsidium im Krisenmanagement beweisen: In kürzester Zeit wurde die Uni geschlossen und in den Notbetrieb überführt. Im Interview erinnert sich Präsident Weber an eine intensive Zeit im Homeoffice und zieht eine erste Bilanz der Krise.

Zu Jahresbeginn häuften sich die Berichte über eine neue Lungenkrankheit in China. Wann war Ihnen und dem Präsidium klar, dass das neue Coronavirus, SARS-CoV-2, massive Auswirkungen auf den Forschungs- und Lehrbetrieb der Uni haben würde?

Weber: „Richtig aufmerksam auf das neue Virus sind wir im Präsidium geworden, als es in Deutschland die ersten Infektionen gab. Wir haben das Geschehen genau in den Medien verfolgt. Außerdem habe ich ständig die Seite der Johns Hopkins Universität mit den weltweiten Fallzahlen aufgerufen. Dass es in Richtung Pandemie geht war klar, als die Infektionszahlen in verschiedenen Ländern insbesondere in Italien hochgingen. Wir fingen also an zu überlegen, was es für die Uni bedeutet, wenn diese Welle nach Deutschland schwappt. Die Situation war damals sehr dynamisch – man wusste ja noch viel weniger über SARS-CoV-2 als heute, wie sich das Virus verbreitet oder wie beispielsweise Ansteckungsketten aussehen.

Die Situation verschärfte sich, als die Faschingsferien vorbei waren und über Hotspots wie Heinsberg und Ischgl berichtet wurde. Damit war klar: Die Infektionswelle kommt jetzt nach Baden-Württemberg und wir müssen schnell reagieren."

Gab es einen konkreten Auslöser, die Universität ab dem 19. März zu schließen?

„Die Gewissheit, die Universität wohl schließen zu müssen, zeichnete sich am Wochenende des 14./15. März ab. Der einberufene Pandemiestab hat dann den 19. März als Stichtag bestimmt. Zu diesem Zeitpunkt hatten wir den Notbetrieb bereits im Präsidium definiert: Mit einer Abfrage war erfasst worden, welche Beschäftigten diesen Minimalbetrieb aufrechterhalten sollen. Schließlich ist die Technische Versorgungszentrale der Universität für die Belieferung des Oberen Eselsbergs – inklusive der Kliniken – mit Wärme, Kälte und Notstrom zuständig. Außerdem mussten natürlich die Forschungsinfrastruktur und die Liegenschaften der Universität gesichert werden. Dafür haben wir zum Beispiel einen zusätzlichen Wachdienst eingesetzt."

 

Wie sieht die generelle Strategie des Präsidiums zur Bewältigung der Coronavirus-Pandemie aus?

„Wir haben uns selbstverständlich an bindenden Vorgaben von außen orientiert wie an der Corona- Verordnung des Landes, mussten aber auch viel Eigeninitiative entwickeln. Dabei galt der Infektionsschutz als oberstes Maß: Eine wichtige Leitlinie waren hierbei die Arbeitsschutzbestimmungen des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales.

Für die Universität Ulm haben wir ein Vierstufenkonzept entwickelt, um nach und nach Lockerungen des Notbetriebs zulassen zu können. Uns war es besonders wichtig, verlässliche Regeln zu haben, die eine gewisse Zeit halten. Damit sollten Verunsicherungen bei Studierenden und Beschäftigten minimiert werden."

Prof. Michael Weber
Prof. Michael Weber mit Alltagsmaske

An der Universität Ulm gab es einen alten Pandemieplan aus SARS-Zeiten und ansonsten eher wenig Erfahrung mit Krankheitsausbrüchen. Wie hat sich das Präsidium die nötige Expertise besorgt?

„Dass der alte Pandemieplan nicht greift, haben wir schnell gemerkt – und quasi live einen neuen entwickelt. Wichtige Entscheidungsgrundlagen lieferte auch die Taskforce der Landesuniversitäten, die mit Beteiligung des baden-württembergischen Wissenschaftsministeriums noch immer wöchentlich tagt. Das Rad soll ja nicht an jeder Universität neu erfunden werden.

An der Uni Ulm haben wir natürlich den Vorteil, eine starke Medizin im Haus zu haben – mit einer hervorragenden Virologie und Epidemiologie. Auch im Präsidium sind wir mit unserem Vizepräsidenten Professor Klaus-Michael Debatin, der als Mediziner an der landesweiten Corona-Kinderstudie beteiligt ist, gut beraten. Darüber hinaus hieß es: lesen, lesen, lesen. Wir haben uns auf verschiedenen Wissenschafts- sowie Medienportalen bestmöglich informiert und aus diesen Erkenntnissen Entscheidungen abgeleitet.“

Prof. Michael Weber (Jahrgang 1959) ist seit 2015 Präsident der Universität Ulm. Er ist somit Vorsitzender des Präsidiums und des Senats und verantwortet alle akademischen Angelegenheiten sowie die strategische Entwicklung der Universität. Weber studierte Informatik mit dem Nebenfach Mathematik und promovierte an der TU Kaiserslautern zum Dr.-Ing. Nach Stationen bei der Litef GmbH (Freiburg) und am Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz in Saarbrücken folgte er 1994 einem Ruf an die Universität Ulm. Vor seiner Wahl zum Universitätspräsidenten leitete Weber das Institut für Medieninformatik.

 

Prof. Weber im Homeoffice
Prof. Michael Weber im Homeoffice

Was war in der Corona-Krise die größte Herausforderung für das Präsidium?

„Den Notbetrieb einzusetzen war noch am einfachsten. Herausfordernd war vor allem die Entscheidung, wie wir zu Lockerungen welcher Art kommen. Zunächst konnte man ja kaum MNS-Masken und Desinfektionsmittel beschaffen.

Rückblickend war der Übergang vom Notbetrieb in die Stufe 2 am schwierigsten. Wir brauchten ein Wegekonzept für die Uni und mussten entscheiden, in welcher Form Prüfungen und Praktika abgehalten werden können.“

 

Haben die Mitarbeitenden und Studierenden Ihre Entscheidungen akzeptiert und mitgetragen?

„Noch vor dem Übergang in den Notbetrieb haben wir einen Corona-Krisenstab gebildet, der sich zunächst alle zwei Tage per Videokonferenz ausgetauscht hat. Dazu kommen verschiedene Untergruppen für Spezialthemen. Uns war es besonders wichtig, alle Statusgruppen und somit auch Studierende von Anfang an am Krisenmanagement zu beteiligen.

Im Krisenstab steht immer die gemeinsame Lösung im Vordergrund und nicht das Interesse einzelner Gruppen. Je länger die Situation anhält, desto größer werden allerdings auch die Erschöpfungszustände. Wir tragen diese Belastung, weil sich die bisherige Corona-Strategie als richtig erwiesen hat.“

 

Im Krisenstab steht immer die gemeinsame Lösung im Vordergrund und nicht das Interesse einzelner Gruppen

leerer Hörsaal

Erstmals in der Geschichte der Uni mussten Sie ein Semester digital eröffnen. Was sind die Vor- und Nachteile der Online-Lehre?

„Wie gut Onlinelehre funktioniert, ist fachabhängig. Es gibt Hörsaalfächer, in denen ein Großteil der Veranstaltungen online abgehalten werden können. Andere benötigen ein Labor vor Ort oder die enge Diskussion in Kleingruppen – dies lässt sich digital nur teilweise umsetzen.

Im Sommersemester haben unsere Lehrenden mit sehr viel Engagement daran gearbeitet, Onlineveranstaltungen auf die Beine zu stellen. Große Unterstützung erhielten sie dabei vom kiz und vom Zentrum für Lehrentwicklung. Insgesamt eine tolle Leistung! Trotzdem entspricht ein fast ausschließlich digitales Semester natürlich nicht dem, wie Lehren und Lernen an einer Universität gedacht ist.

Für das Wintersemester planen wir eine Mischung aus Onlinelehre und Veranstaltungen vor Ort. Mir ist es besonders wichtig, dass die neuen Erstsemesterstudierenden das Uni-Feeling mitbekommen. Sie sollen eine Bindung an ihre Universität erfahren und andere Studierende kennenlernen. Diese sozialen Effekte sind in der Onlinelehre schwer abzubilden.“

Welche Maßnahmen wird die Unileitung ergreifen, sollte es im Wintersemester eine zweite Infektionswelle geben? Ist ein weiterer Notbetrieb denkbar?

„Wir versuchen das Wintersemester so zu planen, dass der Infektionsschutz flächendeckend eingehalten wird. Trotzdem sind Infektionsherde natürlich möglich. In diesem Fall müssen wir versuchen, gemeinsam mit dem Gesundheitsamt Ansteckungsketten zu brechen. Im Wintersemester werden wir bei jeder Veranstaltung Teilnehmende dokumentieren und wir bemühen uns, Gruppen möglichst wenig zu mischen. So müssten im Infektionsfall nur wenige Personen in Quarantäne. Unser Ziel ist der Verbleib in der aktuellen Betriebsstufe 3 und kein Rückschritt. Dazu gehört natürlich viel Disziplin.“

 

Das Sommersemester unter Corona-Bedingungen hat viele Neuerungen mit sich gebracht – vom Homeoffice bis zur flächendeckenden digitalen Lehre. Was sollte vom Not- in den Normalbetrieb übernommen werden?

„Tatsächlich haben wir im Sommersemester einen großen Kompetenzerwerb in der Onlinelehre erlebt: Welche digitalen Formate eignen sich gut und welche weniger? Wir haben nun die Chance, das Beste aus der jetzt erfahrenen Onlinewelt in die Studiengänge zu übertragen. Im Wintersemester kann zum Beispiel der Flipped-Classroom durch Präsenz ergänzt werden. Kurz-Lehrvideos oder Q & A Sessions bieten sich oft auch für Veranstaltungen auf dem Campus an.

Abseits von der Onlinelehre hat die Zeit im Homeoffice gezeigt, dass diese Arbeitsform bei bestimmten Tätigkeiten eine echte Alternative ist. In Zukunft sollte es flexiblere Arbeitsmodelle mit einem Mix aus Tele- und Büroarbeit geben. Dies ist für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf hilfreich – auch um die Arbeitsqualität und Motivation der Mitarbeitenden zu steigern. Natürlich braucht es bei der Arbeit zuhause deutlich mehr Eigenverantwortung. Die vergangenen Monate haben aber gezeigt, dass diese Verantwortung auch wahrgenommen wird.“

 

Das Sommersemester unter Corona-Bedingungen hat die Universität Ulm viel Geld gekostet: Unter anderem musste die digitale Infrastruktur in Rekordzeit ertüchtigt werden. Erhält die Universität eine Kompensation des Landes?

„Es wird so etwas wie einen Rettungsschirm für Universitäten und Studierendenwerke geben. Im April haben die Landesuniversitäten eine Bedarfsanmeldung für Digitalisierungsaktivitäten jeder Art abgegeben. Die Aufwendungen aller Hochschulen in Baden-Württemberg belaufen sich auf etwa 40 Millionen Euro – und an der Universität Ulm sind es über eine Million Euro. Derzeit ist man im Land dabei, die Verteilung der Mittel festzulegen. Wann das Geld fließen wird, wissen wir jedoch nicht. Bis dahin muss die Uni in Vorleistung gehen.

Die coronabedingten Mehraufwendungen umfassen allerdings nicht nur Digitalisierungsmaßnahmen. Darunter fallen auch Ausgaben für den Arbeits- und Gesundheitsschutz wie die Beschaffung von MNS-Masken und Desinfektionsmittel. Weiterhin zählen hierzu Kosten für den zusätzlich auf dem Campus eingesetzten Sicherheitsdienst und Lehrbeauftragte. Auf der anderen Seite mussten Veranstaltungen abgesagt und wissenschaftliche Projekte aufgeschoben werden. Außerhalb der Digitalisierung kommen wir so auf coronabedingte Kosten von etwa 4,5 Mio Euro.“

 

leere Mensa

Was ist Ihre bisher prägendste Erinnerung an das Corona-Semester? Und was haben Sie im Homeoffice vermisst?

„Was mich in den vergangenen Monaten wirklich beeindruckt hat: Entscheidungen, über die man an der Universität normalerweise sehr lange debattiert hätte, wurden schnell und im Konsens getroffen. Außerdem musste ich feststellen, dass man nicht alles so planvoll organisieren kann, wie es die Menschheit gerne hätte. Wir sind eben nur bedingt in der Lage, die Natur zu beherrschen.

Wie alle Beschäftigten und Studierenden habe ich während der Uni-Schließung von zuhause aus gearbeitet und war etwa vier Wochen am Stück nicht an der Universität. Was ich im Homeoffice vermisst habe, ist der persönliche Kontakt – insbesondere der spontane Austausch auf dem Flur. Das Zwischenmenschliche ist nicht durch eine Videokonferenz zu ersetzen.“

Text: Annika Bingmann

Fotos: Elvira Eberhardt, privat, Studierendenwerk Ulm