400 Jahre Kar­te­si­sche Träu­me

Eine Nacht in Ulm

Genau auf den Tag 400 Jahre nach einer berühmt gewordenen Winternacht ging eine Veranstaltung im Ulmer Stadthaus den Auswirkungen auf den Grund. Im Mittelpunkt: der französische Mathematiker, Naturwissenschaftler und Philosoph René Descartes. Denn der Überlieferung nach in Ulm – oder wenigstens in der Nähe – soll Descartes im November 1619 drei Träume gehabt haben, die die Welt nachhaltig veränderten und aus denen die Gewissheit entstand „Cogito ergo sum! – Ich denke, also bin ich“.

In der Winternacht vom 10. auf den 11. November 1619 wurde in Ulm Wissenschaftsgeschichte geschrieben. René Descartes, damals ein 23-jähriger Soldat im Dienste des bayerischen Herzogs, verbrachte wohl in Ulm die Winterzeit, als er drei Träume hatte, die den modernen wissenschaftlichen Diskurs ermöglichten. Quasi im Traum schrieb Ulm Wissenschaftsgeschichte.

Genau 400 Jahre später beleuchtete die gemeinsame Veranstaltung „Eine Nacht in Ulm – 400 Jahre Kartesische Träume“ des Humboldt-Studienzentrums und des Instituts für Angewandte Analysis die Erlebnisse Descartes in seinem Ulmer Winterquartier. Dabei ging es interdisziplinär um die Fächer, auf die Descartes maßgeblichen Einfluss nahm – von der Mathematik bis hin zur Philosophie.

„Der Beginn des Winters hielt mich in einem Quartier fest, in dem ich keine Unterhaltung fand (…) und wo mich zum Glück außerdem weder Sorgen noch Leidenschaften plagten. So blieb ich den ganzen Tag allein, eingeschlossen in eine warme Stube, in der ich alle Muße fand, mich mit meinen Gedanken auseinanderzusetzen.“ So beschreibt Descartes rund 18 Jahre nach der schicksalshaften Nacht seine Soldatenzeit in Deutschland. In seinem berühmten Werk „Discours de la méthode“ ist die Episode erwähnt.

Protagonisten 400 Jahre Kartesische Träume
Erinnerten an Descartes‘ Träume: Prof. Joachim Ankerhold (Vizepräsident für Forschung der Uni Ulm und Sprecher des Humboldt-Studienzentrums), Prof. Wolfgang Arendt (Institut für Angewandte Analysis), Prof. David Espinet (Gastprofessor für Philosophie am Humboldt-Studienzentrum), Prof. Dieter Thomä (Vortragender, Uni St. Gallen), Prof. Jean Dhombres (Vortragender, Directeur de Recherche CNRS und EHESS, Paris), Girard Rhoden (Vortragender, Opern- und Musicalsänger, Theater Ulm) und Prof. Renate Breuninger (Geschäftsführerin Humboldt-Studienzentrum) (v.l.)

Auch Descartes‘ Biograf Adrien Baillet weiß Jahrzehnte später in seinem Werk „La vie de Monsieur Descartes“ sogar noch mehr über die einzelnen Träume zu berichten. Zwei davon besitzen eher alptraumhaften Charakter: Descartes leidet unter seinem Körper, der unablässig nach links zieht und kann sich kaum auf den Beinen halten. Im zweiten Traum gerät der Schlafende in ein Gewitter und wird von einem Donnerschlag geweckt. Den dritten Traum dagegen schildert Descartes als „süß“ und „sanft“. Er stößt in einem Buch auf einen erbaulichen Vers, der ihm einen eigenen Lebensweg eröffnet. Danach schwärmt ihm ein Unbekannter von einem Gedicht vor, das mit den Worten „Est et Non“ beginnt. Descartes glaubt darin die Unterscheidung von Wahr und Falsch zu erkennen.

 

Descartes ermöglichte das, was wir heute den wissenschaftlichen Diskurs nennen

 

Genau auf die Inhalte dieser drei Träume ging Philosophieprofessor Dieter Thomä (Universität St. Gallen) bei der Decartes-Nacht im Stadthaus ein. „Ich habe in den Träumen die ‚Grundlage einer wundervollen Wissenschaft‘ entdeckt“, zitiert Thomä Descartes. Diese Wissenschaft habe die Welt, in der wir heute leben, mitgeprägt. In jedem von uns stecke Descartes, ist sich Thomä sicher, denn mit ihm gewinnen erstmals Vernunft und „Ich“ die Oberhand. Seine Ulmer Träume läuten damit die Zeitenwende zum modernen Selbstbewusstsein ein. Der Mensch wagt es nun, selbst zu denken: Descartes Ansatz des radikalen Hinterfragens und des Zweifelns ermöglichte so erst das, was wir heute den wissenschaftlichen Diskurs nennen.

Der französische Mathematiker Professor Jean Dhombres vom „Centre national de la recherche scientifique“ in Paris widmete seinen Vortrag den Errungenschaften Descartes für die Mathematik und verglich den Franzosen mit intellektuellen Vordenkern und „Bilderstürmern“ wie Martin Luther. Unter anderem war Descartes der erste, der Brechung udn Reflexion eines Regenbogens beschrieb und nach dem das „kartesische Koordinatensystem“ benannt wurde. „Er wollte der Welt etwas geben“, erläuterte Dhombres, „Die Ulmer Nacht war die Nacht der Entscheidung eines jungen Soldaten, in die Wissenschaft einzutreten.“ Vor allem die Begeisterung mit der sich der erst 23-Jährige seinen Berufsweg sucht und den „Schlüssel für die Grundlage der Wissenschaft findet“, bezeichnet Dhombres als bemerkenswert.

Zwischen den beiden Vorträgen verlieh Sänger und Schauspieler Girard Rhoden, Ensemblemitglied des Theaters Ulm, den Gedichten von Durs Grünbein eine ausdrucksvolle Stimme. „Vom Schnee oder Descartes in Deutschland“ nannte Grünbein seine lange Eloge, in der er das Bild vom Denker an der Schwelle zur Neuzeit zeichnet und die 30 Jahre nach der Schicksalsnacht von Ulm endet.

Ulm und das Publikum im gutbesetzten Stadthaus erwiesen sich 400 Jahre nach der schicksalshaften Nacht dem Vermächtnis gewachsen. Da wurde es eher zur Nebensache, ob Descartes seine Träume nun vielleicht in Ulm, Neuburg oder einem anderen süddeutschen Städtchen hatte. Denn worauf es ankommt, sind die Erkenntnisse und Erungenschaften, die René Descartes in die Welt gebracht hat.

Von der mathematischen Schönheit eines Regenbogens - Prof. Wolfgang Arendt im Gespräch

Einer der Köpfe hinter der Veranstaltung „Eine Nacht in Ulm – 400 Jahre Kartesische Träume“ ist Professor Wolfgang Arendt. Bereits in dem von ihm betreuten Mathematik-Promotionskolleg gab es regelmäßig sogenannte Descartes-Lectures, die besonders René Descartes interdisziplinäres Wirken in den Mittelpunkt stellten. Denn Descartes ist nicht nur als Philosoph weltberühmt, sondern er hat sich in seinem Leben auch anderen Fächern gewidmet, allen voran den Naturwissenschaften und der Mathematik. Beispielsweise ist auch das kartesische Koordinatensystem nach ihm benannt.

Herr Professor Arendt, was genau sind Descartes Einflüsse auf die Mathematik?

Prof. Arendt: „Descartes hat das kartesische Koordinatensystem erfunden und damit geometrische Eigenschaften auf analytische zurückgeführt. Mithilfe der von Descartes gegründeten analytischen Geometrie kann man tatsächlich geometrische Zusammenhänge rigoros beweisen. Ferner hat Descartes Beiträge zum Tangentenproblem geleistet. Er hat also der Infinitesimalrechnung einen Vorläufer vorausgeschickt. Seine Beiträge waren wegweisend und sehr einflussreich.“

 

Welche Auswirkungen hatten diese Neuerungen?

„50 Jahre nach den Träumen – in den 80er-Jahren des 17. Jahrhunderts – wurden Descartes' Erkenntnisse von Isaac Newton und Gottfried Wilhelm Leibniz benutzt, um die Infinitesimalrechnung einzuführen und damit fundamentale Naturgesetze mathematisch zu formulieren. Eine besonders beeindruckende Anwendung Descartescher Mathematik ist beispielsweise das Koordinatensystem unseres Planeten.“

Prof. Wolfgang Arendt
Prof. Wolfgang Arendt, einer der Köpfe hinter der Veranstaltung „Eine Nacht in Ulm“

Was fasziniert Sie an der historischen Person Descartes?

„Descartes hat das reine Denken, die Rationalität in den Mittelpunkt seiner Philosophie gestellt. Dazu hat er die Technik des Zweifelns, das Prüfen der Wahrheit, programmatisch formuliert.  Ein naturwissenschaftliches Beispiel ist der Regenbogen. Existiert dieser Bogen wirklich am Himmel? Wie uns einer der Vortragenden, Jean Dhombre, bei der Veranstaltung im Stadthaus erklärte, hat Descartes das Brechungsgesetz gefunden und den Regenbogen rigoros erklärt. Faszinierend ist, wie Descartes aus eigener Kraft, in einer Welt die noch voller mittelalterlicher Vorstellungen war, eine neue Philosophie, Mathematik und Physik entwickelt hat, die große Wirkung nicht nur auf die Naturwissenschaften hatte.“

 

Die Descartes-Nacht im Ulmer Stadthaus beleuchtet Descartes als Mathematiker wie auch als Philosoph und wurde vom Institut für Angewandte Analysis, dem Institut für Theoretische Informatik und dem Humboldt-Studienzentrum organisiert. Wie kam die Veranstaltung zustande?

„Bereits während des Promotionskollegs ‚Mathematische Analyse von Evolution, Information und Komplexität‘ fanden regelmäßig sogenannte Descartes-Lectures statt. Danach gab es noch sporadisch Veranstaltungen, die letzte liegt rund ein Jahr zurück. In den Descartes Lectures sollten interdisziplinäre Themen einem größeren Publikum nahegebracht werden.
Quasi als Höhepunkt entstand in Anlehnung an die Lectures die Idee der Descartes-Nacht, genau zeitlich passend zum Jahrestag des Traums. Verantwortlich für die Organisation war unsere Descartes-Combo‘, bestehend aus fünf Kolleginnen und Kollegen der Fachbereiche Philosophie, Informatik und Mathematik, nämlich den Professorinnen und Professoren Renate Breuninger, David Espinet, Uwe Schöning, Jacobo Toran sowie mir.“

Prof. Wolfgang Arendt (Jahrgang 1950) hat in Tübingen, Berlin und Nizza Mathematik sowie Physik studiert. Er promovierte im Fach Mathematik an der Uni Tübingen über „Das Spektrum regulärer Operatoren“. Nach einem Aufenthalt als Post-Doktorand an der University of California in Berkeley (USA) habilitierte sich Arendt in Tübingen. Von 1987 bis 1995 hatte er eine Professur an der Université de Franche-Comté in Besançon, Frankreich, inne. Seit 1995 ist Wolfgang Arendt Professor am Institut für Angewandte Analysis der Uni Ulm. Sein Forschungsinteresse gilt vor allem der Funktionalanalysis und den partiellen Differentialgleichungen.

Texte: Daniela Stang

Fotos: Frans Hals/Wikimedia Commons, Photodesign Armin Buhl, pixabay