Von weiblichen Karrierewegen und männlichen Führungskulturen
Gastprofessor Dr. Yves Jeanrenaud im Gespräch
Der Soziologe Dr. Yves Jeanrenaud wird im Sommersemester 2020 an der Universität Ulm die Professur für Gender Studies antreten. Bei der Veranstaltung „Ein Jahr Mission Statement“ sprach der Wissenschaftler über unterschiedliche Karriereverläufe von Männern und Frauen im MINT & Med Bereich. Im Interview erklärt er, wie Geschlechterrollen, familiäre Bindungen und die Bezeichnung von Studiengängen weibliche Berufsentscheidungen beeinflussen. Und er verrät einiges über sich.
Herr Dr. Jeanrenaud, Sie sind studierter Soziologe. Wie Sie aber von sich sagen, schlägt Ihr Herz auch für die Informatik...
Dr. Jeanrenaud: „Damals war ich hin- und hergerissen zwischen einem Soziologie- und einem Informatik-Studium. Ich habe mich dann für die Sozialwissenschaften entschieden, mein Interesse am Computer ist mir aber immer erhalten geblieben. Nach dem Studium habe ich ein Jahr lang in London bei einem Spieleentwickler gearbeitet. Es ging dabei um das Online Computer Rollenspiel Final Fantasy, und ich habe dabei geholfen, Spielende im Ausland zu betreuen. Außerdem habe ich eine kleine IT-Firma, die 2002 gegründet wurde: „PocketPC.ch“ ist ein Nachrichtenportal für kleine digitale Assistenzsysteme wie Smartphones mit Testberichten und Tipps. Ich bin seit jeher sehr technikaffin und verstehe mich gut mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus den Ingenieurwissenschaften und der Informatik. Es gibt eine wechselseitig gefühlte Nähe nach dem Motto: ‚Ich verstehe zwar nicht im Detail, was du da machst, aber ich finde es toll!‘“
Warum sind Frauen in den MINT-Fächern noch immer unterrepräsentiert?
„Dies hat mehrere Gründe. Studien zeigen, dass insbesondere die Unterstützung durch die Herkunftsfamilie eine Rolle spielt. Beispielsweise kann das Verhältnis zwischen Vater und Tochter ganz entscheidend dafür sein, ob sich Frauen auf ein Studium der Ingenieurwissenschaften einlassen. Doch auch Großeltern können hier eine Vorbildfunktion haben und Wege bereiten. Rollenbilder haben ebenfalls einen Einfluss auf Studienentscheidungen. Sind diese stark männlich geprägt wie in der E-Technik, im Maschinenbau oder der Informatik, wirkt das auf viele Frauen eher abschreckend. Wichtig ist außerdem, wie ein Studienfach wahrgenommen wird. Was stellen sich die Studierenden darunter vor? Anders als man glauben könnte, gehen diese Vorstellungen der Studienanfänger in den MINT-Fächern oft auseinander. Viele haben überhaupt keine konkrete Idee, wohin der berufliche Weg gehen könnte.“
Sie meinen, viele Studierende wissen gar nicht so genau, was sie da studieren?
„Am Rande einer Studie haben wir Studiengangskoordinatoren zur Motivation von Studienentscheidungen befragt. Dabei wurde deutlich, dass sich viele der Erstsemester für Elektrotechnik entschieden haben, weil sie etwas mit Elektroautos machen wollten! Weit gefehlt, kann man da nur sagen. Viele merken dann aber ganz schnell, dass das Studium in eine völlig andere Richtung läuft als sie dachten – und brechen dann auch ab oder wechseln.“
Welche MINT-Studiengänge sind denn für Frauen attraktiv?
„Seit Jahren beobachten wir ein erstaunliches Phänomen. Es gibt Studiengänge im MINT-Bereich, die einen deutlich höheren Frauenanteil haben. Dazu gehören etwa Medieninformatik, Medizintechnik oder Energietechnik. Das liegt nicht nur an vermeintlich modischen Reizworten wie ‚Medien‘ oder ‚Medizin‘, die auch bei Frauen gut ankommen, sondern, so zeigen Studien, auch am Zugewinn an Konkretheit. Signalisiert wird damit gewissermaßen ein größerer Praxisbezug, eine konkrete Anwendbarkeit und gesellschaftliche Relevanz. Es scheint so, als wären dies wichtige Faktoren, die Studienentscheidungen von Frauen in Technikfächern begünstigen. In diesen Bindestrich-Fächern sind aber auch mehr Männer, die sich ansonsten eher nicht für ein MINT-Fach entschieden hätten.“
Sehr männlich geprägte Führungskulturen sind für Frauen oftmals abschreckend
Zwar nimmt die Zahl der Studentinnen in den MINT-Fächern kontinuierlich zu, doch nach dem Studium wird die Luft für Frauen dünner. Woran liegt das?
„Auch das hat viele Gründe. Die sogenannte ‚leaky pipeline‘ zeigt sich vor allem nach der Promotion deutlich. Das heißt, der Strom der weiblichen Karrieren dünnt deutlich und massiv mit jeder Karrierestufe aus. Dafür verantwortlich sind vor allem die Karrierebedingungen und das Arbeitsumfeld. Sehr männlich geprägte Führungskulturen sind für Frauen oftmals abschreckend. Dazu kommt die Doppelbelastung mit Beruf und Familie, die in diesem Umfeld vornehmlich Frauen zugeschrieben wird. Auf dem Karriereweg nach oben werden Eltern nicht gefördert, sondern eher gehindert. In manchen Unternehmensgruppen oder Branchen gibt es eine ausgeprägte Präsenzkultur. Das heißt, nur wer länger bleibt, steigt auf der Karriereleiter nach oben. Für viele Frauen, aber auch für Männer, ist das nicht attraktiv. Dieses Phänomen beobachten wir in der Forschung schon seit 30 Jahren.“
Besonders schwer haben es Frauen in der Medizin und im Klinikbetrieb, oder?
„Ja, das ist im medizinischen Bereich noch extremer. Wenn in einer Klinik eine Chefarztposition ausgeschrieben ist, fragen sich insbesondere die Ärztinnen, ob sie in einer Klinik Karriere machen wollen. Frauen und speziell Mütter haben es auf Chefarztpositionen denkbar schwer. Zusätzlich sind sie konfrontiert mit überkommenen Rollenbildern und Geschlechterstereotypen: So gelten Chefärztinnen – wie Frauen in anderen Führungspositionen auch – schnell als kaltherzig, karriereorientiert und vermännlicht. Machtvolle Positionen passen dann nicht zu den geläufigen Vorstellungen von Weiblichkeit. Hinzu kommt, dass Ärztinnen ein höheres Interesse an einer eigenen Familie zugeschrieben wird als anderen Führungsfrauen, sodass sie gegen eine sehr starke und verfestigte Doppelorientierung ankämpfen müssen.“
Dr. Yves Jeanrenaud studierte an der Universität Basel Soziologie, Gender Studies und Medienwissenschaften. Nach seinem Studium arbeitete er für ein Jahr in London bei einem Spiele-Entwickler (Square Enix Ltd.). Seine wissenschaftliche Karriere nahm er dann an der Technischen Universität München wieder auf, wo er im Bereich Gender Studies in den Ingenieurwissenschaften promovierte und danach noch mehrere Jahre forschte.
Im Mittelpunkt seiner Dissertation stand das Thema „Engineers’ Parenting. Zum Verhältnis von Ingenieurinnen und Ingenieuren zur Elternschaft“. Nach verschiedenen Lehraufträge an anderen Hochschulen und einer Vertretungsprofessur an der Universität Vechta ist Jeanrenaud derzeit als Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der LMU München beschäftigt. Im Sommersemester wird er an der Universität Ulm die Gastprofessur zur „Geschlechterforschung in MINT & Med“ antreten.
Welche Rolle spielen die Unternehmen?
„Heute gibt es deutlich mehr Absolventinnen mit einem erfolgreichen MINT-Abschluss. Doch diese gut ausgebildeten Frauen kommen in den Betrieben nicht unbedingt an. Es gibt eine Baden-Württemberg-Studie über den drop out von Ingenieurinnen, die hier nach den Ursachen fragt. Unternehmenskulturen, die geprägt sind von heterogen sozialisierten Männern sind für Frauen nicht wirklich attraktiv und identitätsstiftend. In den Unternehmen müsste sich etwas ändern. Wenn auf einer Messe eine Frau neben einem Auto steht, wird sie oft für eine Hostess gehalten. Selbst wenn sie als Ingenieurin an der Entwicklung des Fahrzeugs mitgearbeitet hat und dies am Stand entsprechend ausgewiesen ist. Wie kommt das? Es gibt ja immer noch viele Firmen, die Frauen als schmückendes Beiwerk zur Bewerbung ihrer Tech- nik-Produkte einsetzen. Das sendet natürlich bestimmte Signale an potenzielle weibliche Fachkräfte.“
Sie haben persönliche Erfahrungen in der Spiele-Entwickler-Branche gemacht. Ist das Frauenbild dort genauso fragwürdig?
„Untersuchungen bestätigen meinen Eindruck, dass dort ein vielfach problematisches Frauenbild propagiert wird. Weibliche Charaktere in Computer-Spielen beispielsweise sind noch immer viel zu oft als Sexobjekte angelegt, obwohl weibliche Spieler in der Gamer-Szene zahlreicher werden und auch ökonomisch an Bedeutung gewinnen. Die Botschaften, die diese Unternehmen hiermit senden, halte ich in der Tat für sehr fragwürdig.
Was erhoffen Sie sich von Ihrer Forschung?
Mich interessiert vor allem die Rolle von Kulturen, Strukturen und Systemen. Wie tragen diese dazu bei, dass sich geschlechtsspezifische Unterschie- de auch heutzutage noch derart massiv im Erwerbsleben halten können. Ich hoffe natürlich, dass ich mit meiner Arbeit dazu beitragen kann, bestehende Probleme sichtbar zu machen. Damit kann meine Forschung möglicherweise helfen, diese zu beseitigen.
„Vor allem nach der Promotion wird die Luft für Frauen dünner“ - Podiumsdiskussion: Ein Jahr Mission Statement Gleichstellung
Mit dem Mission Statement Gleichstellung hat die Universität Ulm vor einem Jahr ein wichtiges Thema in ihren Fokus gerückt. Und nun? Für eine erste Bestandsaufnahme sorgte Mitte November eine Podiumsdiskussion samt Gastvortrag, organisiert vom Gleichstellungsreferat der Uni. Dabei zeigte sich, dass die Universität erhebliche Fortschritte auf dem Weg zur Geschlechtergerechtigkeit gemacht habe. Um die Karrierechancen für Frauen nachhaltig zu verbessern, bleibt allerdings ein beträchtlicher Handlungsbedarf.
Als wichtigen Erfolg stellte die Gleichstellungsbeauftragte der Universität, Professorin Susanne Biundo-Stephan, die Entwicklungen in den Entscheidungsgremien heraus. Seit den Wahlen 2019 ist das Geschlechterverhältnis im Senat ausgeglichen und im Universitätsrat liegt der Frauenanteil derzeit bei 73 Prozent. Bei den Professuren bleibe der Nachholbedarf allerdings gravierend.
„Noch immer gibt es an der Uni Ulm nur 16 Prozent Professorinnen“, so die Informatikerin Biundo-Stephan, die an der Universität Ulm das Institut für Künstliche Intelligenz leitet. Der Vizepräsident für Karriere, Professor Dieter Rautenbach, der die Podiumsdiskussion mit Bravour moderierte, betonte in seinem Grußwort die Vorbildfunktion und Eigenverantwortung der Universitäten beim Thema Gleichstellung: „Wenn wir das nicht hinbekommen, sind wir selbst schuld.“
Universitätspräsident Professor Michael Weber trug mit einer ganz persönlichen Bemerkung zum Thema bei. Auch seine Frau sei promovierte Informatikerin. „Starre Arbeitszeiten, Präsenzpflichten und Zeitdruck haben Kinder während der Promotion unmöglich gemacht“, sagte Weber. Erst danach habe man eine Familie gegründet, und heute sei er Professor und seine Frau eben nicht. Ein ganz klassisches Beispiel für eine leaky pipeline sah darin Gastredner Dr. Yves Jeanrenaud: „Frauen verlassen in den MINT-Fächern den akademischen Betrieb vor allem nach der Promotion. Und von Karrierestufe zu Karrierestufe werden sie weniger“. Jeanrenaud sprach bei der Veranstaltung zum Thema „Karrierechancen in den MINT & Med Fächern: (K)eine Frage des Geschlechts?“. Der Schweizer Soziologe, der im Sommersemester die Gastprofessur für Gender Studies an der Universität Ulm antreten wird, präsentierte dazu umfangreiches Zahlenmaterial, das belegte, dass es in den MINT-Fächern zwar starke Zuwächse an weiblichen Studierenden gibt. Doch bleibe die „gläserne Decke“ für viele Frauen nahezu undurchdringlich – ob in der Wissenschaft oder der Privatwirtschaft.
Bei der anschließenden Podiumsdiskussion wurde deutlich, wie eng die Themen Gleichstellung und Familienfreundlichkeit miteinander verbunden sind. So betonten Dr. Daniel Schropp und Dr. Sabine Vettorazzi, die bei der Veranstaltung den wissenschaftlichen Mittelbau vertraten, wie wichtig vor allem Flexibilität und die Unterstützung durch Lebenspartner und Vorgesetzte seien, um Familie und Karriere unter einen Hut zu bekommen. Auch Beate Mendler, Vorstandsmitglied im Personalrat, hob die Bedeutung einer familienfreundlichen Führungskultur hervor. Dies gelte nicht weniger für den nicht-akademischen Bereich, wo die Spielräume für flexible Arbeitszeiten sehr unterschiedlich seien. Die studentische Seite vertrat auf dem Podium Sandy Spormann. Die Psychologiestudentin ist Gleichstellungsreferentin der Verfassten Studierendenschaft und hat ihre Tochter im Masterstudium bekommen. Planbarkeit und Verlässlichkeit sind für sie das Wichtigste, um Kind und Karriere unter einen Hut zu bekommen. Äußerst hilfreich dabei: Vorlesungsaufzeichnungen und die Online-Plattform Moodle. Annette Maier-Zakrzewski, die Leiterin des Dezernats III für Personal, wies darauf hin, dass die Universität ihre Angebote im Familienservice in den letzten Jahren massiv ausgebaut habe: „Wir sind als familiengerechte Hochschule wiederholt zertifiziert worden und in diesem Bereich sehr gut aufgestellt.“ Die Herausforderungen im Wissenschaftsbetrieb sind trotzdem enorm. „Der Wettbewerb in der Wissenschaft ist knallhart, und es gibt zu wenig Sicherheit und Verlässlichkeit“, meinte der Wirtschaftswissenschaftler Professor Martin Müller. Dies schrecke viele Frauen ab. Vizepräsident Rautenbach regte an, die Juniorprofessuren auszubauen, um die Karrierechancen für Wissenschaftlerinnen an der Uni zu verbessern, solange sie noch da sind.
Texte: Andrea Weber-Tuckermann
Fotos: Heiko Grandel, Elvira Eberhardt