»Wissen ist die beste Medizin«
Epidemiologie als interdisziplinäre Wissenschaft für die ganze Lebensspanne
Die Corona-Krise hat die Arbeit von Epidemiologinnen und Epidemiologen ins Rampenlicht gerückt. Doch auch außerhalb von Pandemien befassen sie sich mit der Häufigkeit und den Risikofaktoren von Krankheiten. Die Vertreterinnen und Vertreter der Disziplin ergründen die Ursachen und die Folgen von Erkrankungen auf Bevölkerungsebene. Ihre Ziele: neben Prävention und Früherkennung auch den Nutzen von Maßnahmen zu ermitteln, um so optimale Therapien für verschiedenste Erkrankungen zu finden.
Spätestens seit der Corona-Pandemie ist Professor Dietrich Rothenbacher, Leiter des Instituts für Epidemiologie und Medizinische Biometrie, ein gefragter Ansprechpartner für die Medien. Doch vor die Kamera oder zum Interview schickt der Mediziner eher die infektionsepidemiologischen Kolleginnen und Kollegen aus dem Netzwerk der Deutschen Gesellschaft für Epidemiologie, deren Geschäftsstelle an seinem Institut beheimatet ist. Er selbst lässt lieber seine Forschungsarbeiten sprechen. Und Arbeit, das heißt im Fall des Ulmer Epidemiologen: Messen, Beobachten, Errechnen und Veröffentlichen der Ergebnisse in Fachjournalen.
Insgesamt ist die Epidemiologie eine sehr interdisziplinäre Wissenschaft: »Wir kooperieren mit vielen unterschiedlichen medizinischen Fächern – je nach Studienlage oder untersuchter Krankheit. Das Spektrum der Kooperationspartner reicht von Ärztinnen und Ärzten aus Altersmedizin, Gynäkologie und Kinderheilkunde bis hin zu Expertinnen und Experten aus der Onkologie und Neurologie. Und auch mit EDV-Fachleuten und Statistikern arbeiten wir im Team«, beschreibt Rothenbacher sein Arbeitsumfeld.
Begonnen hat der Epidemiologie-Professor seine Laufbahn mit einem klassischen Medizinstudium an der Universität Ulm. Es folgten ein Epidemiologie-Aufbaustudium an der University of North Carolina (USA) und die Fortbildung zum Arbeitsmediziner. Berufliche Stationen führten Rothenbacher über nationale Forschungszentren und ein Pharmaunternehmen vor mehr als zehn Jahren zurück an die Universität Ulm. Hier leitet er das Institut für Epidemiologie und Medizinische Biometrie, das er in den 1990-er Jahren als Wissenschaftlicher Mitarbeiter mit aufgebaut hatte.
Forschung an chronischen Krankheiten
Dietrich Rothenbachers Forschungsinteresse gilt vor allem der Epidemiologie von chronischen Herz-Kreislauf- oder Stoffwechselerkrankungen. Am Institut werden zudem seltene Krankheiten wie die Amyotrophe Lateralskerose (ALS) beforscht – dabei handelt es sich um eine neurodegenerative Erkrankung mit sehr schlechter Prognose – oder die kindliche Lipodystrophie, eine Verteilungsstörung des Unterhautfettgewebes. »Uns fehlen für viele Volkskrankheiten wie Asthma oder Übergewicht geeignete Maßnahmen zur Prävention. Nur wenn wir die Krankheiten besser verstehen und ihre Ursachen kennen, können wir richtig vorbeugen und neue Behandlungsansätze finden. Auch die so genannten seltenen Erkrankungen geraten nun langsam in das Bewusstsein von Forschenden und der Pharmaindustrie. Auch hier gilt: Wissen ist die beste Medizin«, so der Institutsleiter.
Epidemiologinnen und Epidemiologen interessieren sich für die gesamte Lebensspanne des Menschen – vom Säuglings- bis zum Seniorenalter. Auch am Ulmer Institut werden Probandinnen und Probanden von 0 bis 104 Jahren betreut. Sei es beispielsweise bei der Ulmer SPATZ Gesundheitsstudie, bei kardiometabolischen Studien im Erwachsenenalter oder bei der Forschung an Krankheiten, die oft altersassoziiert sind wie Diabetes mellitus Typ 2, häufige Knochenbrüche oder Krebs.
Probandensuche im Kreißsaal
Im Zentrum der Ulmer SPATZ Gesundheitsstudie stehen chronische Erkrankungen im Kindesalter wie Allergien, Asthma und Übergewicht. Seit rund 20 Jahren unterhält das Institut zwei Geburtskohortenstudien, in denen je rund 1000 Kinder regelmäßig untersucht werden, die alle in der Ulmer Uniklinik geboren worden sind. Die ersten Probandinnen und Probanden der Kohorte sind inzwischen junge Erwachsene.
»Gerade arbeiten wir an der Fragestellung, ob die mögliche Belastung der Muttermilch mit dem Umweltgift Dioxin und die Stilldauer im ersten Lebensjahr eine Auswirkung auf die Spermienqualität der Söhne haben. Hier scheint es ein sehr empfindliches Fenster für die Entwicklung der späteren Samenzellen zu geben«, schildert Rothenbacher.
»Allein, um die Daten aus mehreren Jahrzehnten zu sammeln und auszuwerten, braucht man in unserer Profession vor allem eins: viel Geduld«, so der Mediziner weiter. Und auch Fragen, an die heute noch niemand denkt, können eines Tages vielleicht durch die standardisierte und kontinuierliche Datensammlung und die langfristige Lagerung von biologischem Material beantwortet werden.
Für ihre Untersuchungen erheben die Forschenden umfangreiche Gesundheitsinformationen von Probandinnen und Probanden – zum Beispiel durch Befragungen oder Blutuntersuchungen. Aber auch Werte zu Umwelteinflüssen oder Lebensumständen werden verzeichnet und erlauben so wichtige Rückschlüsse auf Zusammenhänge. Eine weitere Langzeitbeobachtung des Instituts betrifft erwachsene Herz-Kreislauf-Patientinnen und -Patienten.
Ein Ziel der KAROLA-Studie (Langzeiterfolge der KARdiOLogischen Anschlussheilbehandlung) ist die langfristige Beobachtung nach einer koronaren Herzerkrankung. Daneben untersuchen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verschiedene Einflussfaktoren auf die Prognose, um die Betroffenen optimal versorgen zu können.
In einem anderen aktuellen Beispiel erforschen Ulmer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, wie sich Herzerkrankungen, depressive Symptome und Diabetes mellitus Typ 2 gegenseitig bedingen können. Das eindeutige Ergebnis des Vergleichs von mehr als 1000 Studienteilnehmenden: Herzkranke Patientinnen und Patienten mit langanhaltenden depressiven Symptomen haben ein erhöhtes Risiko, später an Diabetes mellitus Typ 2 zu erkranken oder weitere kardiovaskuläre Komplikationen zu entwickeln.
Neben der Forschung gehört natürlich auch die Lehre zur Arbeit der Institutsangehörigen – und auch hier zeigt sich die Interdisziplinarität der Epidemiologie. Neben Medizinstudierenden belegen auch angehende Informatikerinnen und Informatiker sowie Studierende der Mathematischen Biometrie Kurse bei Professor Dietrich Rothenbacher und seinem Team. »Mir ist es wichtig, den Studierenden eine bestimmte Methodenkompetenz und die Notwendigkeit von guter wissenschaftlicher Praxis zu vermitteln. Diese braucht es, um Studien und deren Qualität beurteilen zu können, und um einen soliden Erkenntniszugewinn zu erhalten«, erklärt der Institutsleiter. Neben Informationen zum Studiendesign, zur Forschungsfrage und zur Probandenzahl sind solide statistische Methoden und die Qualität des wissenschaftlichen Journals für Rothenbacher wichtige Merkmale. Wissen, das in Zeiten der Corona-Pandemie auch für Laien interessant sein kann.
Text: Daniela Stang
Fotos: Pixabay/B_Me, Universitätsklinikum Ulm / H.Grandel, Elvira Eberhardt, Shutterstock/Ermolaev Alexander