In der Kindheit die Weichen für ein gesundes Leben stellen
Auf dem Weg zu einem führenden Forschungsstandort für Kinder- und Jugendmedizin
Kinder sind keine kleinen Erwachsenen. Biologisch betrachtet ist die Kindheit eine hochsensible Phase, in der der medizinische Grundstein dafür gelegt wird, wie sich ein Mensch entwickelt – bis hinein ins Alter. Das neue Deutsche Zentrum für Kinder- und Jugendgesundheit (DZKJ), das im nächsten Jahr an den Start gehen soll, baut auf diesem besonderen Grundverständnis auf. Beteiligt an der Entwicklung des DZKJ-Gesamtkonzeptes sind Forschende der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendmedizin und der Universität Ulm. Im März vergangenen Jahres wurde Ulm als einer von bundesweit sieben Standorten ausgewählt.
Deutschland gehört zu den reichsten Ländern der Erde und hat große Erfolge bei der Bekämpfung der Kinder- und Säuglingssterblichkeit vorzuweisen, doch die gesundheitliche Situation des jungen Teils der Bevölkerung ist nicht in allen Belangen rosig: »Stoffwechselerkrankungen wie Diabetes und starkes Übergewicht, Allergien und Infektionen machen Kindern und Jugendlichen das Leben schwer. Andere wiederum leiden an psychischen Erkrankungen, Suchtproblemen, aber auch Krebserkrankungen«, so Professor Klaus-Michael Debatin, Ärztlicher Direktor der Ulmer Universitätsklinik für Kinder- und Jugendmedizin.
Wir wollen die Medizin besser auf Kinder und Jugendliche ausrichten. Hierfür sollen am DZKJ innovative Forschungsansätze entwickelt werden
Allein die Zahlen für Adipositas sind alarmierend! Fast neun Prozent der 11- bis 17-jährigen Jungen in Deutschland sind heute stark übergewichtig beziehungsweise adipös, Tendenz steigend. »Eigentlich gilt Adipositas als altersassoziierte Erkrankung, ebenso wie Diabetes Typ 2, Bluthochdruck oder Fettlebererkrankungen. Doch in Deutschland und anderen Ländern sind immer mehr junge Menschen davon betroffen, und es gibt kaum wirksame Hilfsangebote«, warnt Professor Martin Wabitsch, der in der Kinderklinik die Sektion Pädiatrische Endokrinologie und Diabetologie leitet.
Wie lässt sich die Gesundheit von jungen Menschen in Zukunft verbessern? Einen wichtigen Beitrag wird das Deutsche Zentrum für Kinder- und Jugendgesundheit leisten, das 2023 seine Arbeit aufnehmen soll. "Mit dem von uns vorgelegten Konzept 'Ulm Child Health' wurde das Universitätsklinikum Ulm mit seinen Partnern aufgefordert, als einer von sieben zukünftigen Standorten an der Entwicklung des DZKJ-Konzepts mitzuwirken. Dies ist ein beachtlicher Erfolg und eine große Auszeichnung für die Universität", so Debatin, der gemeinsam mit Wabitsch den Aufbau des Ulmer Standorts koordiniert. Nach der endgültigen Bewilligung soll das neue Gesundheitsforschungszentrum mit insgesamt 30 Millionen Euro jährlich von Bund und Ländern gefördert werden. Das Ziel: die Gesundheit und das Wohlbefinden jedes Kindes zu verbessern, und zwar vom frühestmöglichen Zeitpunkt – noch vor der Geburt – bis ins Erwachsenenalter. Im Mittelpunkt stehen dabei Faktoren und Prozesse, die bereits in der frühen Lebensphase entscheiden, ob ein Mensch gesund bleibt oder krank wird.
Eine Schlüsselrolle spielen Immunsystem, Stoffwechsel und Psyche
In der Kindheit werden die Weichen gestellt für ein gesundes Leben. Im Fokus des DZKJ und des Ulmer Standorts stehen weniger einzelne Krankheitsbilder, sondern übergeordnete Fragestellungen und Querschnittsthemen. Die Forschungsschwerpunkte in Ulm bilden zwei traditionell starke Bereiche der Ulmer Kinder- und Jugendmedizin ab: "Übergewicht, Hormone und Stoffwechsel" sowie "Immunologie, Zelltherapie und Blutbildendes System". Ein dritter thematischer Komplex befasst sich mit der Frage, welche Rolle Immun- und Stoffwechselprozesse bei der Entstehung psychischer Erkrankungen spielen. Hier geht es beispielsweise um den Zusammenhang zwischen Adipositas und Depression. Außerdem soll am Standort Ulm untersucht werden, welchen Einfluss (epi-)genetische Faktoren und Prozesse haben.
"Es gibt Krankheiten, die auf Genmutationen in der DNA zurückzuführen sind, und die vererbt werden. Und es gibt Krankheiten, die ebenfalls angeboren, aber eben nicht im strengen Sinne vererbt sind", erklärt Professor Wabitsch. Gemeint sind Veränderungen der DNA im Zuge so genannter epigenetischer Programmierung. Dabei kommt es zu chemischen Modifikationen am Chromatin oder an der DNA, die die Genaktivität verändern. Ein klinisches Beispiel für epigenetische Effekte: Massives Übergewicht vor der Schwangerschaft erhöht das Erkrankungsrisiko eines Kindes für Diabetes und Adipositas ganz beträchtlich. Eine (epi-)genetische Prädisposition gibt es auch bei Immunkrankheiten und (Blut-)Krebserkrankungen.
Die Versorgungsforschung wird ebenfalls von der Arbeit des Standorts profitieren. So sollen medizinische Innovationen schneller bei den jungen Patientinnen und Patienten ankommen und neue Erkenntnisse rascher in die Bevölkerung gelangen. Die Forschenden arbeiten auch daran, jungen Menschen und ihren Familien zu helfen, besser mit chronischer Krankheit zurechtzukommen. Geforscht wird auch zu digitalen Hilfsmitteln, die bei der Therapie unterstützen, beispielsweise bei der Behandlung von Diabetes. Ein weiteres zentrales Anliegen ist eine stärkere Patientenbeteiligung und Einbeziehung von Angehörigen bereits in die Forschung.
Das Besondere an diesem Forschungsverbund zur Kinder- und Jugendgesundheit ist der stark interdisziplinäre und klinikübergreifende Zuschnitt. Beteiligt am Ulmer Antrag "Ulm Child Health" sind 24 Projektleitende aus 14 verschiedenen klinischen und universitären Fachbereichen – von der Endokrinologie über die Genetik bis zur Psychologie und Transfusionsmedizin. Dazu kommen scheinbar weiter entfernte Disziplinen wie die Ethik und die Datenwissenschaften. Diese breite klinische Einbettung macht es möglich, die Kinder- und Jugendmedizin viel umfassender aufzustellen. "Ziel ist es, die Medizin besser auf Kinder und Jugendliche auszurichten. Hierfür sollen innovative Forschungsansätze entwickelt werden, um die Entstehung von Krankheiten früher zu erkennen", betonen die Ulmer Mediziner Debatin und Wabitsch. Allein in den vergangenen sechs Monaten haben sich die beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Woche für Woche getroffen, um gemeinsam Konzeptideen und Projektvorschläge zu entwickeln. Das Gesamtkonzept wurde Ende Februar eingereicht.
Außerdem könnte das Deutsche Zentrum für Kinder- und Jugendgesundheit (DZKJ) dabei helfen, grundlegende medizinische Fragestellungen aufzuklären. "Viele Körpersysteme verändern sich im Laufe des Lebens. Aus solchen Reifungsprozessen können wir auch neue Erkenntnisse für altersassoziierte Erkrankungen gewinnen", merkt Klinikdirektor Professor Klaus-Michael Debatin an. Beispiel COVID-19: Kinder erkranken in der Regel nicht so schwer an einer Infektion mit SARS-CoV-2 wie Erwachsene, insbesondere ältere Menschen. Dies ist vor allem auf Besonderheiten des jungen Immunsystems zurückzuführen. Außerdem verkraften krebskranke Kinder und Jugendliche viel höhere Dosen einer Chemotherapie als Ältere. Auch hier spielen grundlegende immunologische Prozesse eine zentrale Rolle. Viele Berührungspunkte gibt es auch mit der Altersmedizin, beispielsweise bei der Geweberegeneration, Wundheilung und Stammzellforschung. »Wir können hier hervorragend an den neuen Alterns-SFB anknüpfen«, freuen sich die Standortkoordinatoren. Die Ulmer Universitätsmedizin kümmert sich also um die Gesundheit des Menschen in dessen ganzer Lebensspanne – von der Geburt bis ins hohe Alter, und das mit ausgewiesener Exzellenz!
Das Deutsche Zentrum für Kinder- und Jugendgesundheit (DZKJ) ist ein standortübergreifendes Zentrum, das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung im Rahmen der Deutschen Zentren für Gesundheitsforschung eingerichtet wird. 2023 soll es an den Start gehen. Das Ziel: die bessere Verzahnung von Grundlagenforschung und klinischer Präventions- sowie Versorgungsforschung im Bereich der Pädiatrie. Zu den sieben zukünftigen Standorten, die an der Ausarbeitung des Gesamtkonzeptes beteiligt sind, gehören Berlin, Hamburg, Göttingen, München und Ulm sowie die Doppelstandorte Leipzig/Dresden und Greifswald/Rostock. In Aussicht steht eine Förderung von ins gesamt 30 Millionen Euro jährlich. Geplant ist außerdem der Au¸au einer gemeinsamen Plattform mit dem neuen Deutschen Zentrum für Psychische Gesundheit (DZPG), an dessen Gründung ebenfalls Ulmer Forschende beteiligt sind.
Text: Andrea Weber-Tuckermann
Fotos: Heiko Grandel, Elvira Eberhardt, Anetta/Shutterstock, Uniklinikum Ulm/M. Wolfson