Abschied von der "Universität in der Universität"
Uni-Philosophin Renate Breuninger im Ruhestand
Sie war das Gesicht der Philosophie an der Universität Ulm: Professorin Renate Breuninger. In über 30 Jahren am Humboldt-Studienzentrum (HSZ) hat sie die Philosophie fest im naturwissenschaftlichen und technischen Fächerspektrum der Universität Ulm verankert. Mit öffentlichen Veranstaltungen wie den Ulmer Denkanstößen baute sie zudem Brücken in die Stadt. Ein HSZ ohne seine Geschäftsführerin Renate Breuninger kann man sich nur schwer vorstellen. Im Abschieds-Interview spricht sie über positive Kulturschocks und wie sie die Philosophie aus dem Elfenbeinturm holt.
Sie stammen aus einer Kaufmannsfamilie. Woher kommt Ihr Interesse an Philosophie?
Prof. Breuninger: "Mein Vater und mein Onkel waren im Familienunternehmen tätig. Beide hatten aber auch eine andere Seite: So war mein Vater ein leidenschaftlicher Pianist und mein Onkel hatte den Plan, eine Weltgeschichte der Kulturen zu schreiben. Nach dem Abitur zog es mich aber erst einmal ins Hotelfach: In einem Hotel in Heathrow habe ich alle Stationen durchlaufen – vom Zimmermädchen bis zur Rezeption.
Irgendwann war das Interesse an der Philosophie dann doch stärker. Ich entschied mich also für ein Lehramtsstudium, obwohl es damals wenige Stellen an Schulen gab. Da kam mir die Möglichkeit, in Philosophie zu promovieren gerade recht."
Sie sind 1989 aus einem klassischen philosophischen Institut ans junge Humboldt-Studienzentrum gewechselt – ein Kulturschock?
"Der Wechsel nach Ulm war eher ein positiver Kulturschock. In meiner Tübinger Zeit habe ich sehr darunter gelitten, dass die Philosophie sich in einer Art 'splendid isolation' befand. Es herrschte ein elitäres Selbstverständnis und man suchte kaum Kontakt zu anderen Fächern.
Ich glaube aber fest, dass Philosophie die Menschen erreichen sollte. Und an einer naturwissenschaftlich-technischen Universität wie Ulm muss sie definitiv raus aus dem Elfenbeinturm! In meinen Seminaren hier kommen durchaus Fragen wie: 'Was soll das alles?' Aber das ist auch gut so: Als Philosophin oder Philosoph sollte man die Grundzüge von Kant in zehn Sätzen verständlich machen können."
Als Philosophin oder Philosoph sollte man die Grundzüge von Kant in zehn Sätzen verständlich machen können
Wie haben Sie das HSZ in den folgenden Jahren weiter auf- und ausgebaut?
"Bis heute steht das Humboldt-Studienzentrum auf zwei großen Säulen: der Verankerung der Philosophie in den Studiengängen und öffentlichen Veranstaltungen. Nach meinem Wechsel ans HSZ bekam ich sofort die Aufgabe, die neue Stiftungs-Gastprofessur zu organisieren: Um die fehlenden Geisteswissenschaften an der Uni zu kompensieren, haben diese zumeist jungen, noch nicht arrivierten Privatdozenten immer auch einen Vortrag im Stadthaus gehalten, die so genannten Humboldt-Lectures.
Etwas später hatte der damalige Ulmer Oberbürgermeister Ernst Ludwig die Idee, zusätzlich eine Humboldt-Professur an bedeutende Persönlichkeiten zu verleihen. Unterstützt von mehreren Unternehmen ist es uns gelungen, Größen wie Ulla Hahn, Hans Küng, Paul Ricoeur oder Bernhard Schlink für öffentliche Vorträge nach Ulm zu holen – das waren echte Höhepunkte meiner Laufbahn. Über die Jahre kamen weitere Formate wie der Philosophische Salon, die interdisziplinäre Ringvorlesung und natürlich die Ulmer Denkanstöße hinzu.
Diese Veranstaltungen und unsere Schriftenreihe 'Bausteine zur Philosophie' machten das Humboldt-Studienzentrum über die Universität hinaus bekannt. Dazu kommen natürlich die ehemaligen Stiftungs-Gastprofessoren, die später alle auf Lehrstühle berufen wurden.
Außerdem war mir die Integration der Philosophie in die Fächer von Anfang an ein besonderes Anliegen. Ab 1989 hatten wir am HSZ sogar unsere eigenen Studierenden: Zunächst in den Begleitstudiengängen Philosophie, dem 'Ulmer Philosophicum', in der Wissenschaftsgeschichte und der Kulturanthropologie. Bis 2008 konnten wir sogar einen Philosophie-Bachelor als Zweitstudium anbieten. Derzeit ist das Humboldt-Studienzentrum über die Schlüsselqualifikationen und durch Exportmodule in den verschiedenen Fächern präsent. Dank der Stiftungs-Gastprofessur, deren Inhaberinnen und Inhaber verschiedene Denkschulen vertreten haben, hatte die Universität Ulm über viele Jahre fast eine kleine Philosophische Fakultät."
Gäste vergangener Denkanstöße
Inwiefern kann die Philosophie ein naturwissenschaftliches und technisches Studium bereichern?
"Alle Fächer berühren sich und alle haben die gleichen philosophischen und geisteswissenschaftlichen Grundlagen. Zu nennen sind insbesondere die Wissenschaftstheorie und ethische Fragestellungen: Wo verlaufen die Grenzen des eigenen Handelns? Anwendungsgebiete reichen von der biomedizinischen Forschung über die Robotik bis zum Umgang mit der Natur. Unser Ziel am Humboldt-Studienzentrum ist es, Horizonte zu öffnen. Studierende erhalten ihre berufliche Qualifikation in den Fächern. Urteilsvermögen oder kritisches Denken lernen sie aber nicht unbedingt im Fachstudium. Gerade in Zeiten des Umbruchs, der Digitalisierung und des Klimawandels brauchen wir jedoch junge Menschen, die philosophisch reflektiert sind.
Ich glaube an das Humboldt’sche Bildungsideal und sehe das HSZ als Universität in der Universität. Erst durch das Humboldt-Studienzentrum wird die Universität Ulm zur ganzheitlichen Bildungseinrichtung."
Zum voraussichtlich letzten Mal haben Sie die Ulmer Denkanstöße federführend organisiert. Wie ist ihre erfolgreichste Vortragsreihe entstanden?
"Eines Tages hat mich der damalige Uni-Präsident Ebeling in sein Büro gerufen. Die Sparda-Bank Baden-Württemberg hatte sich bereit erklärt, ein öffentliches Veranstaltungsformat zu sponsern. Nun sollte ich gemeinsam mit der Stadt Ulm ein Konzept entwickeln. Schnell war klar, dass wir das Gespräch mit den Ulmer Bürgerinnen und Bürgern suchen wollten. Wir mussten also seismographische Themen finden, die die Menschen bewegen. Denn die Nagelprobe der Philosophie ist immer der Dialog mit der Öffentlichkeit.
Nach 15 Auflagen der Ulmer Denkanstöße mit Vortragenden wie Richard David Precht, Peter Sloterdijk oder Julian Nida-Rümelin kann ich sagen, dass wir unser Publikum wirklich erreichen und inspirieren. Nach jeder Auflage verbringe ich durchschnittlich zwei Tage damit, Dankesmails zu beantworten.
Deshalb war ich so glücklich, die diesjährigen Denkanstöße wieder vor 200 Zuschauerinnen und Zuschauern im Stadthaus eröffnen zu können. Zwar haben wir aus der coronabedingten Online-Variante im letzten Jahr das Beste gemacht und sogar Diskussionen per Videokonferenz geführt. Im vollen Stadthaus wurde jedoch offensichtlich, was dabei gefehlt hat."
Mit dem Eintritt in den Ruhestand wird sich auch Ihr Leben ändern. Wie wollen Sie diese Phase gestalten?
Ich war 33 Jahre sehr stark eingespannt und immer hochtourig unterwegs: Da waren das Humboldt-Studienzentrum, die Habilitation und selbstverständlich auch meine Familie. Eigentlich kann ich mir gar nicht vorstellen, dass sich das bald ändert. Ich habe allerdings noch meine apl.-Professur in Stuttgart. Dort werde ich weiter forschen, lehren und Doktorarbeiten betreuen. In Ulm halte ich zunächst noch ein Kompaktseminar pro Semester. Außerdem habe ich noch einige Ehrenämter. Vermissen werde ich den täglichen Kontakt mit den Studierenden. Es ist einfach schön, den jungen Leuten etwas mitzugeben und sie für die Philosophie zu begeistern."
Was wünschen Sie dem Humboldt-Studienzentrum für die Zukunft?
"Wenn ich an meine Anfangszeiten an der Universität Ulm zurückdenke, hatte ich als Geisteswissenschaftlerin immer mal mit Widerständen zu kämpfen: Dabei brauchen gerade die natur- und technikwissenschaftlichen Fächer die Philosophie! Deshalb hoffe ich, dass es an der Universität Ulm weiterhin genügend Menschen gibt, die diese Notwendigkeit erkennen. Bei meinen Seminaren merke ich oft, dass gerade fachfremde Teilnehmende hungrig nach der Philosophie sind – fast wie die Wespe vor der Colaflasche. Das Nachdenken über philosophische und existenzielle Fragen bedeutet ihnen etwas. Und das gilt besonders in unsicheren Zeiten des Wandels und des Umbruchs."
Prof. Renate Breuninger (Jahrgang 1956) schloss ein Lehramtsstudium mit den Hauptfächern Germanistik und Philosophie an der Universität Tübingen ab. 1989 wurde die Philosophin mit einer Arbeit über "Wirklichkeit in der Dichtung Rilkes" an der Universität Stuttgart promoviert.
Im gleichen Jahr wechselte sie an das Humboldt-Studienzentrum für Philosophie und Geisteswissenschaften der Universität Ulm, dessen Geschäfte sie von 1992 an führte. Renate Breuningers Schwerpunkte liegen auf der Geschichte der Philosophie (Deutscher Idealismus und französische Philosophie) sowie auf der praktischen Philosophie.
2001 habilitierte sie sich mit einer Arbeit über die Philosophie der Subjektivität nach Walter Schulz; und seit 2006 ist sie apl.-Professorin an der Universität Stuttgart. Renate Breuninger hat drei erwachsene Kinder.
Interview: Annika Bingmann
Fotos: Uni Ulm, Rosa Grass