Schwäbisches Biopharma-Valley statt nur Autoland

Vom Uni-Labor in die biotechnologische Anwendung

San Francisco, Boston, Singapur… Schwaben. In der Aufzählung der wichtigsten Biotechnologie-Standorte weltweit darf die Region zwischen Ulm, Biberach und dem Bodensee nicht fehlen. Über gemeinsame Forschungsprojekte ist die Universität Ulm mit den führenden Biopharma-Unternehmen verbunden: Somit gelangen neue Erkenntnisse schneller aus dem Labor zu schwer kranken Patientinnen und Patienten. An der Universität Ulm ausgebildete Fach- und Führungskräfte haben an Europas größtem Produktionsstandort für Biopharmazeutika hervorragende Berufschancen.

Baden-Württemberg ist weltweit für seine Automobilindustrie berühmt: Auch in der Ulmer Wissenschaftsstadt wird für namhafte Hersteller geforscht. Weniger bekannt ist allerdings die Tatsache, dass die Ulmer Universität inmitten des schwäbischen »Biopharma-Valley« liegt. Seit Mitte der 1980-er Jahre hat sich die Region zu einem global führenden Biotechnologie-Standort entwickelt. Heute werden rund die Hälfte der biopharmazeutischen Wirkstoffe mit EU-Zulassung in der Ulmer Umgebung produziert. Anders als die von der Corona-Krise zeitweise hart getroffene Automobilindustrie hat die Biopharma-Branche enormes Wachstumspotenzial: Der globale Umsatz dieser Wirkstoffe lag bereits 2019 bei über 220 Milliarden Euro.

Etwa die Hälfte der Neuzulassungen sind heute Biopharmazeutika, darunter monoklonale Antikörper, Impfstoffe, Insuline sowie Gentherapeutika. Solche Medikamente werden vermehrt bei der personalisierten Behandlung von Krebs, Infektionskrankheiten oder zur Immunmodulation eingesetzt. Im Gegensatz zu chemisch synthetisierten Arzneimitteln greifen sie sehr gezielt kranke zelluläre Strukturen an. Die Herstellung dieser biologischen »Designer-Moleküle« ist allerdings komplex: Oftmals werden sie in großen Fermentern von gentechnisch veränderten Bakterien, Hefen oder Säugerzellen produziert. Zudem müssen Biopharmazeutika oft stark gekühlt, tiefgefroren oder gefriergetrocknet gelagert werden.

Wegweisende Therapiefortschritte in Immunologie und Immun-Onkologie werden heute durch Biopharmazeutika erzielt.

 

Viele dieser Wirkstoffe werden von regional ansässigen Schwergewichten der Biopharma-Industrie hergestellt wie Boehringer Ingelheim, Rentschler Biopharma, Teva Biotech oder Vetter. Dabei ist die komplette Wertschöpfungskette abgedeckt – von der Substanzfindung über klinische Studien bis hin zu Produktion und Vertrieb. Eines der führenden Pharmaunternehmen weltweit ist Boehringer Ingelheim: Am Standort Biberach verfügt der Konzern heute über den größten europäischen Standort für die Entwicklung und Produktion von Biopharmazeutika auf Basis von Zellkulturen. Die Inbetriebnahme eines neuen Entwicklungszentrums für Biopharmazeutika sowie einer neuen aseptischen Abfülllinie stehen bevor. Auch der israelische Konzern Teva baut neue Anlagen für die Herstellung monoklonaler Antikörper in Ulm: Der Standort soll zur weltweiten Biotech-Drehscheibe werden. Darüber hinaus haben sich zahlreiche Mittelständler und Start-ups aus den Bereichen Biotechnologie und Medizintechnik in der Region angesiedelt.

»Wegweisende Therapiefortschritte in Immunologie und Immun-Onkologie werden heute durch Biopharmazeutika erzielt. Die Branche ist Innovationstreiber und wächst weiter kräftig. Unser Standort im Süden Deutschlands bewegt sich auf Augenhöhe mit San Francisco, Boston oder Singapur. Mit dem Außenauftritt als ›BioPharma Cluster South Germany‹ wollen wir unsere Sichtbarkeit als Zukunftsregion stärken«, betont Professor Uwe Bücheler, Vizepräsident der Biopharma Business Unit bei Boehringer Ingelheim und Vorstandsvorsitzender des BioPharma Clusters South Germany.

Gemeinsame Forschung im BioCenter

Thematische Überschneidungen mit dem medizinischen, naturwissenschaftlichen und technischen Profil der Universität Ulm gibt es viele. Seit 2011 kooperieren Forschende der Universität und von Boehringer Ingelheim im BIU BioCenter. Dabei handelt es sich nicht um Auftragsforschung. Vielmehr entspricht das Zentrum, das kürzlich als BIU 2.0 verlängert wurde, einem Sonderforschungsbereich: Projekte werden qualitätsgeleitet ausgewählt und regelmäßig evaluiert.
Im Zentrum von BIU 2.0 stehen die Diagnostik und Behandlung neuropsychiatrischer, kardiometabolischer und immunologischer Krankheitsbilder sowie von Lungenerkrankungen. Dabei profitiert das Pharmaunternehmen, insbesondere von Einblicken in die Patientenversorgung am Universitätsklinikum Ulm. Letztlich sollen neuartige Therapieansätze schneller aus dem Labor in die industrielle Herstellung und zu den Kranken gelangen. Weitere Anknüpfungspunkte zur Biotechnologie-Industrie bieten das universitäre Zentrum für Peptidpharmazeutika sowie die Bereiche Alters- und Stammzellforschung, Hämatologie und Neurodegeneration. »Als Motor der Wissenschaftsstadt ist es der Universität Ulm ein besonderes Anliegen, grundlegende Forschungsergebnisse in die Anwendung zu tragen. Dabei hat die biomedizinische Forschung seit Universitätsgründung einen besonderen Stellenwert. Die Kooperationen mit regional ansässigen Pharmaunternehmen, allen voran BIU 2.0, setzt dieses Ziel in hervorragender Weise um«, sagt Professor Michael Weber, Präsident der Universität Ulm.

Karrierestart an der Uni Ulm

Viele Fach- und Führungskräfte für den Biopharma-Standort werden in den Bachelor- und Masterstudiengängen der Hochschule Biberach und der Universität Ulm ausgebildet. Das Angebot reicht von neuen Fächern wie Pharmazeutische und Industrielle Biotechnologie bis zu den »Klassikern« Biochemie oder Molekulare Medizin. Eine Promotion, beispielsweise an der internationalen Graduiertenschule für Molekulare Medizin der Uni Ulm, kann ebenfalls den Weg in die Pharmaindustrie ebnen.
Laut dem BioPharma Cluster South Germany absolvieren jährlich rund 1100 junge Leute in der Region eine biotechnologische Ausbildung oder ein Studium. Das Cluster hat sich formiert, um die Achse von Ulm bis nach Ravensburg als führenden Standort für die Entwicklung und Produktion von Biopharmazeutika ebenso bekannt zu machen wie die Mitbewerber in Boston, Singapur oder San Francisco. Neben den Pharmaunternehmen und -dienstleistern, die im Wettbewerb um die besten Fachkräfte stehen, sind die Universität Ulm, die Hochschule Biberach, die Kommunen sowie die Industrie- und Handelskammer Ulm (IHK) Mitglieder im BioPharma Cluster South Germany. Gemeinsam wollen sie zeigen, dass die Region zwischen Ulm und dem Bodensee deutlich mehr als Autos und Maschinenbau zu bieten hat.
»›Made in Germany‹ ist weltweit ein Begriff für Innovation und Qualität. Biopharmazeutische Verfahren und Produkte spielen überall eine zunehmend wichtige Rolle - wir als Biotechnologie-Region haben das Potenzial, in diesem Bereich eine ganz zentrale Rolle zu übernehmen. Nutzen wir diese großartige Chance!«, sagt der Ulmer Oberbürgermeister Gunter Czisch, Vorstandsmitglied im BioPharma Cluster. Schon jetzt produziert Deutschland nach den USA die meisten Biopharmazeutika weltweit – und die schwäbische Biopharmaindustrie wird sicher vielen weiteren Arzneimitteln zum Durchbruch verhelfen.

Text: Annika Bingmann
Fotos: Boehringer Ingelheim über BioPharma Cluster, Heiko Grandel

BioPharma Cluster South Germany

  • Zählt zu den 20 führenden Pharmaunternehmen weltweit
  • Seit über 35 Jahren Biotechnologie-Pionier & Weltmarktführer für biotechnologische Auftragsfertigung
  • Gesamtumsatz 2019 (global): 19 Mrd. Euro, davon über 1,7 Mrd. Euro in Deutschland
  • 51 000 Mitarbeitende weltweit

Standort Biberach

  • 6366 Mitarbeitende (Durchschnitt 2019)
  • Konzernweit größter Forschungs- & Entwicklungs- sowie Biopharma-Standort
  • Kontinuierliche Investition in die Infrastruktur: derzeit rund 500 Mio. Euro u.a. für das Biologicals Development Center oder eine neue Anlage zur sterilen Abfüllung von Biopharmazeutika für klinische Studien
  • Teil des Teva Konzerns (Umsatz weltweit 2020: 13,8 Mrd. Euro)
  • über 40.000 Mitarbeitende weltweit

Teva in Deutschland (Standorte in Ulm, Blaubeuren/Weiler)

  • Ca. 2500 Mitarbeitende
  • Standort Ulm spezialisiert auf Herstellung biotechnologischer Arzneimittel auf Basis von Zellkulturen
  • Investment von 500 Mio. Euro in eine neue, hochmoderne Anlage zur Herstellung monoklonaler Antikörper, damit verbunden sind bis zu 300 neue Stellen
  • Der Produktionsstandort in Deutschland ist der größte innerhalb des weltweiten Teva-Konzerns; im Jahr 2020 Produktion von 314 Mio. Packungen Arzneimittel
  • 4,5 Milliarden Euro Beitrag zum Bruttoinlandsprodukt
  • Partner der biopharmazeutischen Industrie; entwickelt Zelllinien und Proteinproduktionsprozesse, lizenziert Technologien zur Herstellung von Proteinen und bietet Zellkulturmedien an
  • gehört seit 2015 zum Biopharma-Zulieferer Sartorius Stedim Biotech (Umsatz 2019: 1,4 Mrd. Euro, 6200 Mitarbeitende)
  • Seit Ende 2019 am neuen Standort im Ulmer Science Park III
  • Ca. 120 Mitarbeitende in Ulm
  • Umsatz Sartorius Stedim Cellca 2020: 17,9 Mio. Euro
  • Ein führendes Auftragsentwicklungs- und Produktionsunternehmen (CDMO), ausschließlich auf Kundenprojekte fokussiert.
  • Prozessentwicklung und Produktion von Biopharmazeutika sowie damit verbundene Beratungsleistungen einschließlich Projektplanung und regulatorischer Unterstützung
  • Kunden: Pharma- und Biotechunternehmen weltweit
  • 1000 Mitarbeitende
  • Seit 2019 Produktionsstätte im Boston Biotech-Hub (Milford, MA, USA)
  • Seit 2021 neues Zentrum für Zell- und Gentherapie in Stevenage, UK
  • Weltweit führender Pharmadienstleister für keimfreie Abfüllung und Verpackung von Spritzen und anderen Injektionssystemen; unterstützt von der frühen Entwicklung neuer Präparate bis zur weltweiten Marktversorgung
  • Kunden: Pharma- und Biotech-Unternehmen weltweit
  • 80% der bei Vetter hergestellten Medikamente sind Biopharmazeutika
  • Umsatz 2019: 669 Mio. Euro
  • Investitionsvolumen 2019: 158 Mio. Euro
  • Über 5000 Mitarbeitende weltweit
  • 3 Fertigungsstätten in und um Ravensburg; Entwicklungsstandorte in Österreich und den USA sowie Vertriebsbüros in Singapur, Japan und Südkorea