Klassifikation und Evolution in Wissenschaftsgeschichte, Biologie und Sprachwissenschaften

Heiner Fangerau, Frank Kressing, Matthis Krischel

Die heute scheinbar deutlich voneinander getrennten, sich in Methoden und Fragestellungen fundamental unterscheidenden Natur- und Geisteswissenschaften weisen in ihren historischen Entwicklungen nicht nur Parallelen, sondern auch fruchtbare gegenseitige Vernetzungen und Bezugnahmen auf. Für solche Vernetzungen stand bis in das 20. Jahrhundert hinein auch die Figur des „Universalgelehrten“, wie etwa August Schleicher oder Franz Boas. Ausgerechnet am Beginn einer Phase der disziplinären Spezialisierung kulminierten in der Mitte des 19. Jahrhunderts gegenseitige Referenzen in evolutionären Vorstellungen und Ansätzen zur Klassifizierung kultureller und biologischer Phänomenen. Vor allem die Sprachwissenschaften hielten aus mehreren Gründen weiter an Analogien zur Biologie fest und belebten sie immer wieder neu.

Hartnäckig hält sich seit dieser Zeit die These, dass vor allem biologische Vorstellungen die der anderen Disziplinen geprägt hätten. Vielfältige Indizien weisen indes darauf hin, dass eine gegenseitige Bezugnahme zwischen Sprach- und Biowissenschaften erfolgte, ohne dass dieser Themenbereich bisher näher untersucht worden wäre. Insbesondere sind jüngste gemeinsame Entwicklungen und gegenseitige direkte und indirekte Referenzen bisher noch nicht Gegenstand der Forschung gewesen. Um diese Lücke zu schließen und vor allem auch auf einer Metaebene historische Modelle der gegenseitigen Bezugnahme im Sinne einer möglichen Koevolution von Geistes- und Naturwissenschaften zu untersuchen, verfolgt das wissenschaftshistorische Projekt zwei auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelte Ziele:

Zum einen wird die historische Rekonstruktion der Verbindungen zwischen Natur- und Geisteswissenschaft erstens in Bezug auf die Klassifikation von Entitäten und zweitens in Bezug auf gegenseitig übernommene evolutionäre Vorstellungen angestrebt. Dies erfolgt am Beispiel der Biologie und Sprachwissenschaften. Der Betrachtungszeitraum soll von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des 20. Jahrhunderts reichen. Diskursvermischungen, institutionelle und persönliche Bezüge sowie terminologische Verwandtschaften und Metaphernübertragungen, die über Zitationsverbindungen und persönliche Bezugnahmen rekonstruiert werden sollen, dienen als heuristische Leitlinie. 

Zum anderen soll anhand dieses Beispiels der Versuch unternommen werden, die jeweilige historische Entwicklung in einem allgemeinen evolutionären Modell der Wissenschaftsentwicklung zu deuten. Diese Sichtweise soll mit den evolutionären Theorien, die in den Projektgruppen Biologie und Linguistik erarbeitet werden, in Einklang gebracht werden und in einer Verallgemeinerten Evolutionstheorie gipfeln.

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