Großer Andrang herrschte Freitagabend im Ulmer Stadthaus. Das Interesse am Vortrag des renommierten Neuroimmunologen Professor Hartmut Wekerle war dermaßen groß, dass nachbestuhlt werden musste. So vielversprechend das Thema formuliert war - "Fernauslöser - Multiple Sklerose und Darmflora" lautete der Titel des Vortrags - so fesselnd sprach der Emeritus-Direktor und Seniorprofessor vom Max-Planck-Institut für Neurobiologie in Martinsried über den neuropathologischen Zusammenhang zwischen Gehirn und Darm.
Als Gastgeber der Jubiläumsvortragsreihe "Das Gehirn - ein außergewöhnliches Organ" ließ es sich Professor Albert C. Ludolph nicht nehmen, den Münchener Wissenschaftler persönlich vorzustellen. Der Ärztliche Direktor der Klinik für Neurologie an den Rehabilitations- und Universitätskliniken Ulm führte danach zudem in das Krankheitsbild dieser meist schubweise auftretenden neurologischen Erkrankung ein.
Als "Krankheit mit 1000 Gesichtern" zeigt die Multiple Sklerose (MS) von Patient zu Patient große Unterschiede in Krankheitsverlauf und Symptomatik. Von dieser chronisch-entzündlichen Erkrankung, die durch überschießende Autoimmunreaktionen des Körpers hervorgerufen wird, sind gerade junge Erwachsene betroffen. Zu den Symptomen dieser bislang unheilbaren Krankheit gehören Muskelschwäche, Lähmungen und Krampfanfälle aber auch Gefühlsstörungen und Missempfindungen. Mögliche Therapien zielen vor allem darauf ab, die Selbstständigkeit und Lebensqualität der Betroffenen zu erhalten.
Autoaggressive Immunzellen befallen das Gehirn
"Die Multiple Sklerose ist eine Autoimmunerkrankung, bei der fehlgeleitete Immunzellen körpereigene Zellen im Gehirn und Rückenmark befallen", erklärt Professor Wekerle. Dies führe in den betroffenen Nervenzellen zum Abbau der Hüllschicht und schädigt die Nervenfasern, sodass Nervenreize nicht mehr korrekt weitergeleitet werden können. Zu den Auslösern gehören bekanntermaßen bestimmte T-Lymphozyten, die Rezeptoren für Hirn- und andere Nervenzellen haben. "Solche potentiell autoaggressiven T-Zellen hat jeder Mensch, doch wie kommt es, dass nicht alle an MS erkranken?", fragt der Mediziner und Immunbiologe. Was weckt nun diese schlafenden Immunzellen? Was aktiviert deren selbstzerstörerisches Potential?
Aus Zwillingsstudien wisse man, dass sowohl genetische Gründe als auch Umweltfaktoren eine Rolle spielen. Hinweise fänden sich beispielsweise auf Ursachen wie das Rauchen, auf ein Defizit an Sonnenlicht und Vitamin D. Eine vielversprechende Erklärung geht in eine völlig andere Richtung. Professor Wekerle bringt hier die Darmflora ins Spiel. Auf die Spur gekommen sind die Wissenschaftler diesem Zusammenhang mit einem transgenen Mausmodell, das eine Mitarbeiterin von ihm entwickelt habe. Diese Mäuse besitzen deutlich mehr hirnspezifische Immunzellen und entwickeln unter normalen Haltungsbedingungen eine Erkrankung, die der MS von der Histologie, der Symptomatik und dem Krankheitsverlauf sehr ähnele. "Doch wenn diese Mäuse völlig keimfrei gehalten werden, zeigen sie keine MS-Symptome. Werden sie wiederum mit Keimen konfrontiert, erkranken auch diese Tiere", schildert der Neuroimmunologe, der vor Jahren auch am hochrenommierten israelischen Weizmann-Institut für Wissenschaften in Israel geforscht hat, den überraschenden Befund.
Liegt der Schlüssel zur Krankheit in der Darmflora?
"Die bakterielle Besiedlung der Darmflora könnte also ein Auslöser sein", vermutet der Wissenschaftler, der zurzeit auf einer Hertie-Seniorprofessur forscht. Faktoren, die sich wie Stress, Antibiotika und Ernährung auf den Darm auswirkten, seien aus diesem Grunde krankheitsrelevant. "Mittlerweile gibt es zahlreiche Diäten für MS-Patienten, doch sind die wenigsten davon wissenschaftlich getestet", bedauert der Vortragende.
Erstaunlich: eine entscheidende Rolle in diesem Zusammenhang spiele Kochsalz, allerdings in umgekehrter Weise, wie sich vermuten ließe. So zeigte sich bei Mäusen, dass eine salzreiche Ernährung vor der Entstehung von MS schützt. Das Salz wirke dabei nicht direkt über das Immunsystem, sondern über den Darm aus. Bei Salzfütterung reduziert sich die Anzahl Bakterientypen stark und einige Neusiedler kommen hinzu. Hinweise auf die schützende Wirkung einer salzreichen Ernährungsweise finden sich laut Wekerle auch unter den Menschen. In Japan beispielsweise seien die MS-Raten in den letzten Jahren dramatisch angestiegen, gleichwohl die absoluten Zahlen noch immer recht niedrig ausfielen. Vermutet wird, dass hier veränderte Lebensgewohnheiten eine Rolle spielten. Der Neurobiologe spricht hier von der so genannten Mac Donaldifizierung der Ernährung. "Die traditionelle japanische Küche ist sehr kochsalzreich und heute in Japan viel weniger verbreitet als früher", erklärt der 72-jährige Forscher. Doch Wekerle riet keineswegs zum hemmungslosen Einsatz des Salzstreuers, dafür seien die Zusammenhänge noch viel zu unklar.
Entscheidend ist die wissenschaftliche Rückkopplung zwischen Labor und Klinik
Erkenntnisfortschritte zur Verbesserung der MS-Therapie verspricht seiner Meinung nach die translationale Forschung, die Befunde aus dem Labor in die Klinik bringt und umgekehrt, Erkenntnisse und Beobachtungen aus der klinischen Praxis mit der Grundlagenforschung rückkopple. An dieser Stelle schildert der Max-Planck-Forscher ein Experiment, bei dem Stuhlproben von MS-kranken Zwillingsgeschwistern auf MS-freie, keimfrei gehaltene MS-Modell-Mäuse übertragen wurden, die daraufhin tatsächlich erkrankt sind. Zuvor hatten die Wissenschaftler - allerdings ohne Erfolg - versucht, Unterschiede in der Darmflora von gesunden und MS-kranken eineiigen Zwillingen zu identifizieren. Es gibt wohl MS-Erreger, doch bislang seien diese noch unbekannt. An offenen Fragen mangelt es der Forschung also nicht. So suche man weiter mit Hochdruck nach den Organismen, die am Krankheitsgeschehen beteiligt seien, sowie nach Mechanismen, Biomarkern und Therapien. Ob man bei der Behandlung von MS nun auf Antibiotika oder Probiotika setzen müsse, werde sich wohl zeigen. Von einer "Fäkaltransplantation", wie sie in den Medien gerade gehypt werde, konnte Professor Hartmut Wekerle nur warnen: "Denn auch da weiß man nie genau, was drin ist!"
Text, Fotos und Medienkontakt: Andrea Weber-Tuckermann