Virtuelle Welten und ein Brückenkran im Laborformat
Vom 8. bis zum 12. April blicken Technikinteressierte aus aller Welt nach Hannover: Die größte Industrieschau „Hannover Messe“ setzt Trends und ist nach wie vor ein Publikumsmagnet. Auch in diesem Jahr präsentieren Wissenschaftler der Universität Ulm ihre Ideen in der niedersächsischen Landeshauptstadt. Ingenieure um Professor Knut Graichen (Institut für Mess-, Regel- und Mikrotechnik) verdeutlichen anhand eines Brückenkrans im Laborformat, dass sich komplexe und rechenzeitintensive Regelungsansätze durchaus auf dynamische Systeme übertragen lassen – auch ohne Hochleistungsrechner. Außerdem stellen die Jungunternehmer von Immersight, einer Ausgründung der Universität, ihre Videotechnologie vor, die Spaziergänge durch virtuelle Welten ermöglicht. Die Ulmer Forscher nutzen den Gemeinschaftstand von Baden-Württemberg (C19, Halle 2).
Immersight: Virtuelle Welten durch die Videobrille entdecken
Eine futuristisch anmutende Kopfbedeckung mit integrierter Videobrille, eine Kamera und einen Laptop. Mehr brauchen die Ingenieure von Immersight nicht, um virtuelle Welten begehbar zu machen. Auf der Hannover Messe ermöglichen Stefan Hörmann, Dominik Nuss, Simon Singler und Fabian Weiss Standbesuchern einen Rundgang durch eine dreidimensionale Fabrikhalle der Zukunft. Die Gäste können einen Hightech-Roboter bis ins kleinste Detail inspizieren oder sich mit 360 Grad Rundumsicht völlig frei durch das Gebäude bewegen.
Und so funktioniert die innovative Technologie: Der Nutzer setzt einen Ring mit eingebauter Videobrille auf den Kopf. Auf diesem Ring sind Sensoren angebracht, die von einer Kamera aufgenommen werden. So kann die genaue Kopfposition und die Orientierung im Raum von einer Software berechnet werden. Das Ergebnis ist ein realitätsnahes Bild für jedes Auge, das den Nutzer in Echtzeit über die Videobrille erreicht. „Das System ist ganz einfach an jede 3D-Software zu koppeln. Einsatzmöglichkeiten umfassen zum Beispiel Simulationen und Trainings“, sagt Stefan Hörmann. Kürzlich haben die Ulmer Immersight mit einem Programm kombiniert, das oft von Architekten und Designern zur Planungsvisualisierung eingesetzt wird. In der Baubranche stößt diese Innovation auf großes Interesse: Dank der Videotechnologie können Planer mit ihren Kunden lange vor Baubeginn durch das künftige Eigenheim schlendern und etwa die Funktionalität des Badezimmers testen.
Die Ingenieure haben sich während ihres gemeinsamen Studiums der Elektrotechnik beziehungsweise Informationssystemtechnik an der Universität Ulm kennengelernt. Unterstützt von Professor Klaus Dietmayer, Leiter des Instituts für Mess-, Regel- und Mikrotechnik, haben sie Immersight entwickelt und ein Start up gegründet. Ihre Ausgründung ist an der Uni Ulm angesiedelt und wird durch das Förderprogramm EXIST des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie unterstützt. Im letzten Jahr sind die Jungunternehmer für ihre Idee mit dem Hauptpreis des Gründerwettbewerbs IKT Innovativ ausgezeichnet worden. Auf der Hannover Messe hoffen sie, neue Anwendungsfelder für Immersight zu erschließen.
Innovative Regelungs- und Optimierungsverfahren – auch für Brückenkräne
Gleich nebenan zeigen Wissenschaftler um Professor Knut Graichen anhand eines Brückenkrans im Laborformat, dass sich so genannte modellprädiktive Regelungsansätze durchaus auf hochdynamische Systeme übertragen lassen. Dazu sind nicht einmal mehr besonders leistungsfähige Rechner nötig. Zur Erinnerung: Bei der modellprädiktiven Regelung wird das künftige Systemverhalten mit eingeplant und ein vorausschauender Stelleingriff berechnet.
Bisher konnte dieser Regelungsansatz lediglich bei ausreichend langsamen Prozessen eingesetzt werden – also zum Beispiel in der chemischen Verfahrenstechnik. Jetzt ermöglichen echtzeitfähige Verfahren und Algorithmen, die am Ulmer Institut für Mess-, Regel- und Mikrotechnik (MRM) entwickelt wurden, die Übertragung auf hochdynamische Systeme wie das Brückenkran-Modell. Dank des optimierten modellprädiktiven Regelungsansatzes lässt sich ein Lasttransport bei genauer und schwingungsfreier Positionierung der Fracht durchführen. Zudem kann der Kran mit einer einfachen speicherprogrammierbaren Steuerung (SPS) anstatt eines leistungsstarken Rechners gelenkt werden. Das spart Energie und erhöht die Betriebseffizienz. „Ein Brückenkran wie wir ihn als Modell zeigen, wird in der Hafenlogistik für den Transport von Containern oder etwa in Verladebahnhöfen eingesetzt“, erklärt Bartosz Käpernick, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am MRM und das erste Mal in Hannover dabei.
Bereits 2012 haben Professor Knut Graichen und Dr. Tilman Utz modellprädiktive Ansätze für Magnetschwebeversuche auf der Hannover Messe vorgestellt. Das Interesse aus der Industrie war groß, so dass die Ingenieure 2013 eine mögliche Anwendung zeigen: „Wir könnten unseren am Modell überprüften Regelungsansatz sofort in die Praxis übertragen und würden uns freuen, bei der diesjährigen Messe Kooperationspartner aus der Industrie zu finden“, sagen die Aussteller Graichen und Utz.
Die Hannover Messe ist die weltweit größte Industrieschau. In diesem Jahr lautet das Leitthema „Integrated Industry“. Dieses Motto verdeutlicht, dass Maschinen, Anlagen, Werkstücke und Bauteile Informationen sowie Daten zunehmend in Echtzeit austauschen. Im letzten Jahr lockte die Hightech-Ausstellung rund 196 000 Besucher auf das Hannoveraner Messegelände.
Verantwortlich: Annika Bingmann