Gleich zwei Consolidator Grants des Europäischen Forschungsrats (ERC) gehen an die Universität Ulm: Die Psychologie-Professorin Iris-Tatjana Kolassa und die Biologin Professorin Lena Wilfert erhalten jeweils eine Projektförderung über rund zwei Millionen Euro für fünf Jahre. In ihrem Projekt MitO2Health will Iris-Tatjana Kolassa untersuchen, inwiefern schwere depressive Erkrankungen auf zellulären Energiemangel zurückgehen. Lena Wilfert erforscht hingegen die Verbreitung und Evolution eines Erregers, der Bienenvölker bedroht. Der ERC Consolidator Grant hat zum Ziel, hervorragende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler beim Ausbau ihrer Arbeitsgruppen zu stärken und ihre internationale Sichtbarkeit zu fördern. In einem zweistufigen Verfahren sind rund 12 Prozent der über 2400 Anträgen für die Förderung ausgewählt worden.
ERC Consolidator Grant für Prof. Wilfert: Dem Bienen-Virus auf der Spur
Als Bestäuber von Ernte- und Wildpflanzen haben Bienen eine herausragende Funktion bei der Nahrungsproduktion und bei der Erhaltung der Biodiversität. Doch die Bienenbestände sind weltweit bedroht: Neben Pestiziden erhöht der Flügeldeformationsvirus die Sterblichkeit der Honigbienenvölker. Wurde der Virus ursprünglich oral übertragen, hat sich der Verbreitungsweg durch das Aufkommen der Varroamilbe grundlegend verändert. Als so genannter Vektor injiziert die Milbe den Erreger direkt in den Körper der Biene, wodurch Abwehrmechanismen umgangen werden. Daher dürfte die Übertragungsrate steigen und die Krankheit aufgrund einer höheren Virenlast schwerer verlaufen.
Im Zuge ihres Projekts „BeePath“ will Professorin Lena Wilfert die Auswirkungen des neuen Vektors Varroamilbe auf die Verbreitung des Flügeldeformationsviruses bei Honig- und Wildbienen untersuchen. Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf der Evolution des Erregers: Inwiefern haben sich seine Ansteckungskraft und die Symptome beim Wirt durch den zusätzlichen Übertragungsweg verändert? Bei erwachsenen Bienen führt die Krankheit zu verformten Flügeln und weiteren körperlichen Einschränkungen. Betroffene Larven versterben meist direkt nach dem Schlüpfen. Um die Auswirkungen des neuen, vektorbasierten Übertragungswegs auf die Bienenpopulation und auf die Entwicklung des Flügeldeformationsviruses zu erforschen, steht Lena Wilfert ein besonderes natürliches Labor zur Verfügung: Die ökologisch vergleichbaren Kanalinseln sind nicht alle von der Varroamilbe befallen. Auf den verschiedenen Inseln wird Wilfert Honig- und Wildbienen auf den Flügeldeformationsvirus testen und ihre Viruslast bestimmen. Durch Erbgutuntersuchungen der Viren lassen sich sogar Ansteckungswege nachvollziehen.
Welche genetischen Eigenschaften des Viruses die Übertragung durch die Varroamilbe ermöglicht haben, ist bisher unbekannt. Dieser Frage wird Lena Wilfert im Labor nachgehen. Mit molekularbiologischen Methoden will sie untersuchen, inwiefern sich der Erreger durch den neuen Ansteckungsweg verändert hat. Hierzu vergleicht die Biologin das Viren-Erbgut von varroafreien und befallenen Kanalinseln. Um die Virenevolution zu verstehen, können die Forschenden um Wilfert zudem Beispiele früherer Varianten des Flügeldeformationserregers mit der Genschere herstellen. „Durch die Kombination von Untersuchungen im Feld und im Labor wollen wir grundlegende Mechanismen und Auswirkungen der vektorbasierten Virenübertragung nachvollziehen. So erhoffen wir uns Ansätze zur Kontrolle und Prävention des ursprünglich als harmlos geltenden Flügeldeformationsviruses“, so Wilfert. Die Forschungsergebnisse lassen sich womöglich auf vergleichbare Erkrankungen wie die Schweinegrippe oder die Zikavirus-Infektion übertragen.
Prof. Kolassa: Depression als zellulär-metabolische Energiemangelerkrankung
Schätzungsweise 300 Millionen Menschen leiden weltweit unter einer schweren Depression. Zu den Symptomen dieser psychischen Erkrankung gehören Antriebslosigkeit, Schlaf- und Konzentrationsstörungen sowie eine allgemeine Traurigkeit bis hin zu Selbstmordgedanken. Zudem können Depressionen körperliche Erkrankungen begünstigen. In ihrem ERC-Projekt MitO2Health geht Professorin Iris-Tatjana Kolassa den biopsychologischen Ursachen auf den Grund. Im Mittelpunkt steht ein Erklärungsmodell, das Depressionen als eine systemische Energiemangelerkrankung versteht, die also den gesamten Organismus betrifft. „Vermutet wurde bislang, dass ein Defizit an bestimmten Neurotransmittern für die Entstehung schwerer Depressionen verantwortlich ist. Wir glauben allerdings, dass die Ursachen in den Kraftwerken der Zellen, den Mitochondrien, zu suchen ist“, erklärt die Leiterin der Abteilung für Klinische und Biologische Psychologie.
Eine herausragende Rolle in Kolassas Ansatz spielt Stress. Psychische Dauerbelastungen oder traumatische Erfahrungen belasten nicht nur die Psyche, sie sind im Organismus auch biomolekular nachweisbar, beispielsweise als „Oxidativer Stress“ – ausgelöst durch ein erhöhtes Maß an reaktiven Sauerstoffverbindungen (ROS) im Körper. Eine weitere Folge von psychischem Stress ist die Zunahme entzündlicher Prozesse. Zu den zentralen Modellannahmen des Forschungsvorhabens gehört die Hypothese, dass dauerhafte Entzündungsreaktionen und langanhaltender oxidativer Stress die Sauerstoff-Transport-Kapazität und die Leistungsfähigkeit der Mitochondrien massiv beeinträchtigen.
Den Einfluss dieser Faktoren will die Psychologin nun in einer Längsschnittstudie mit insgesamt 300 Probandinnen und Probanden untersuchen. Damit soll unter anderem überprüft werden, inwiefern die Kognitive Verhaltenstherapie geeignet ist, einerseits die Krankheitssymptome zu lindern und andererseits die Parameter für den Sauerstoff-Transport und die mitochondriale Energie-Produktion auf ein gesundes Maß zu normalisieren. Außerdem soll im Zuge der Patientenstudie nach Biomarkern gesucht werden, die eine Diagnose von Depressionen mit einem Bluttest ermöglichen und eventuell Hinweise auf Faktoren geben, die eine erfolgreiche Therapie verhindern. Durch die Normalisierung dieser Parameter könnten Therapieerfolge langfristig verbessert und auch chronische Verläufe von Depression behandelbar werden. Für Fälle, in denen Psychotherapie nicht ausreicht, könnte langfristig eine unterstützende biologische Begleitbehandlung hilfreich sein. „Mit diesem ERC-Projekt möchten wir nicht nur ein neues Erklärungsmodell für die Entstehung schwerer depressiver Erkrankungen nachweisen. Es geht auch darum, neue diagnostische Standards zu etablieren sowie ein personalisiertes Behandlungskonzept zu entwickeln“, resümiert Professorin Iris-Tatjana Kolassa.
Eine großartiger Erfolg für die Universität
Für die Universität Ulm ist die Einwerbung von zwei ERC Consolidator Grants eine großartige Leistung gegen Ende eines gelungenen Jahres: „Im Wettbewerb um europäische Fördermittel sind Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Uni Ulm sehr erfolgreich. Bereits im Oktober haben unsere Physiker zum wiederholten Male einen ERC Synergy Grant eingeworben. Jetzt kommen erstmals zwei ERC Consolidator Grants hinzu. Mit dieser Förderung werden die Professorinnen Iris-Tatjana Kolassa und Lena Wilfert gesellschaftlich hochrelevante Themen beforschen“, sagte Professor Joachim Ankerhold, Vizepräsident der Universität Ulm für Forschung. Die Einwerbung von ERC Grants sei immer auch eine großartige Teamleistung, an der insbesondere die Mitarbeitenden des Zentrums für Forschungsförderung und -unterstützung, Res.Ul, sowie des Kommunikations- und Informationszentrums (kiz, Abteilung Medien) intensiv mitwirken.
ERC Consolidator Grants richten sich an exzellente Forschende in der Konsolidierungsphase. Mit den Fördermitteln sollen sie vor allem beim Ausbau ihrer unabhängigen Arbeitsgruppe und bei der Steigerung ihrer internationalen Sichtbarkeit unterstützt werden. Typischerweise bewerben sich vielversprechende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aller Fachrichtungen sieben bis zwölf Jahre nach ihrer Promotion. Über die Qualität der eingereichten Anträge entscheidet eine internationale Jury, beraten durch externe Experten. Für ihre Projekte erhalten die ausgewählten Forschenden bis zu zwei Millionen Euro für fünf Jahre. 2019 sind 2453 Anträge eingereicht worden. Davon wurden 301 Forschende aus 24 europäischen Ländern für einen ERC Consolidator Grant ausgewählt. Einziges Kriterium ist die wissenschaftliche Exzellenz der Forschenden und des vorgeschlagenen Projektes. Das Fördervolumen beträgt insgesamt 600 Millionen Euro.
Text und Medienkontakt: Annika Bingmann / Andrea Weber-Tuckermann