Der Ulmer Gastprofessor für Geschlechterforschung, Dr. Yves Jeanrenaud, hat eine Expertise für den Dritten Gleichstellungsbericht der Bundesregierung verfasst. Er befasst sich darin mit der Frage, warum Frauen im MINT-Bereich noch immer unterrepräsentiert sind. Im Fokus stehen dabei kulturelle und strukturelle Barrieren wie MINT-bezogene Geschlechter-Stereotype sowie Rollen- und Berufsbilder. Die Expertise floss in das Gutachten der Sachverständigenkommission ein, das am 26. Januar der Bundesgleichstellungsministerin Franziska Giffey übergeben wird.
Das Klischee vom „Nerd“ ist weit verbreitet, nicht zuletzt aufgrund seiner fortwährenden medialen Reproduktion. Was viele allerdings nicht wissen: das Bild vom männlichen Computer-Freak hält Frauen vom Informatik-Studium ab. Zu dieser Einschätzung kommt Dr. Yves Jeanrenaud. Der Gastprofessor für Geschlechterforschung in MINT & Med. an der Universität Ulm hat in einer rund fünfzigseitigen Studie herausgearbeitet, welche kulturellen und strukturellen Faktoren Frauen davon abhalten können, ein MINT-Studium aufzunehmen. In dieser allgemeinverständlichen Expertise zum Gutachten für den Dritten Gleichstellungsbericht der Bundesregierung präsentiert er zudem einen Überblick über bestehende Fördermaßnahmen und gibt weitere Handlungsempfehlungen, wie der Frauenanteil im MINT-Bereich (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik) langfristig gesteigert werden kann.
Frauen wollen nicht zum Nerd werden
Denn noch immer ist der Frauenanteil unter den MINT-Studierenden in Deutschland mit etwa einem Drittel im internationalen Vergleich recht niedrig. Noch vielsagender ist der Anteil der weiblichen Beschäftigten in MINT-Berufen: er beträgt gerade einmal ein Sechstel. Und das obwohl im Zuge der Digitalisierung die Berufsaussichten und Karrierechancen insbesondere im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnik (IKT) besser sind denn je. Doch was haben Stereotypen, Rollen- und Berufsbilder mit Studien- und Berufsentscheidungen zu tun? „Berufsbilder wie Ingenieur oder Informatiker sind noch immer männlich konnotiert. Insbesondere klischeehafte Rollenbilder wie die des Nerds werden so gut wie ausschließlich für junge Männer gebraucht. Viele Frauen fürchten sich davor, von ihrer `Weiblichkeit´ einzubüßen, wenn sie sich auf dieses männlich besetzte Terrain vorwagen. Sie entscheiden sich dann nicht selten gegen ein Informatik-Studium, obwohl sie ein gewisses Interesse dafür durchaus mitbringen“, erklärt Dr. Yves Jeanrenaud.
Warum ist das so? Von Kindesbeinen an macht der Mensch geschlechtsspezifische Sozialisationserfahrungen und internalisiert damit bestimmte Erwartungen, die an sein Geschlecht gebunden sind. „Passt die verinnerlichte Geschlechterrolle nicht zum geläufigen Berufsbild oder einer bestimmten Fächerkultur, droht die Abkehr. Dies gilt für Männer in Pflegeberufen genauso wie für Frauen in den Ingenieurwissenschaften oder Informatik“, so der Soziologe. Einen weiteren Gender-Effekt sieht Gastprofessor Yves Jeanrenaud im sogenannten MINT-Fähigkeitsselbstkonzept, das dazu führt, dass Mädchen ihre Leistungen in Mathematik und Naturwissenschaften ganz anders einschätzen als Jungen, selbst wenn diese gleich ausgeprägt sind.
Stark männlich geprägte Fachkulturen sind für Frauen nicht unbedingt attraktiv
Außerdem orientierten sich Mädchen beziehungsweise Frauen bei der Berufswahl oft noch an bestimmten sozialen Mustern und wünschen sich berufliche Tätigkeiten, bei denen sie mit anderen Menschen zu tun haben oder das Gefühl haben, etwas Sinnstiftendes zu tun. Vielen MINT-Berufen hafte allerdings noch immer das Image der isolierten Beschäftigung mit Dingen statt mit Menschen an. Dazu kommt, dass viele Schülerinnen und Schüler nur vage oder gar keine Vorstellungen von vielen Technik-Berufen haben. Der Ulmer Soziologe hält es dafür für ratsam, die gesellschaftliche Bedeutung solcher Berufe stärker hervorzuheben und auch zu hinterfragen, ob nicht vielleicht auch sehr männlich geprägte Fachkulturen oder ein bestimmter Berufshabitus eine abschreckende Wirkung auf Frauen hat.
Der Gender-Forscher betont in diesem Zusammenhang die Rolle von „Gatekeepern“ wie Eltern und Lehrkräften, die einen großen Einfluss darauf haben, welchen Weg die Kinder später einmal beruflich einschlagen werden. Wichtig sind auch positive Rollenmodellen, die Mädchen darin bestärken, MINT-Interessen zu entwickeln und selbstbewusst nachzugehen. Immerhin steigen die Frauenanteile in MINT-Studiengängen und -berufen dank umfangreicher Fördermaßnahmen von Seiten der Politik, der Wirtschaft und der Bildungsträger kontinuierlich an, doch bleiben die Zahlen teils noch immer weit unter den Erwartungen. So gibt es zwar im Studien-Fach Mathematik ein ausgeglichenes Geschlechterverhältnis, doch dies liegt wahrscheinlich am hohen Anteil der Lehramtsstudentinnen in diesem Fach. Ein ähnlicher Effekt lässt sich in den Naturwissenschaften beobachten, wo ebenfalls dank entsprechender Lehramtsstudiengänge die Zahl weiblicher Studierender so gut wie ausgeglichen ist. In den Technik-Fächern sieht dies mit einem Frauenanteil von 26,3 Prozent schon wieder ganz anders aus. Das Schlusslicht macht hier die Informatik mit einem Anteil an weiblichen Studierenden von 22 Prozent.
Nicht jede Frau will gleich zur Superhackerin werden
„Wir brauchen hier auf jeden Fall mehr weibliche Vorbilder und positive Rollenmodelle!“, fordert Jeanrenaud. Das müssen keine nerdy Superheldinnen sein, wie die schwedische Hackerin Lisbeth Salander, und auch keine Mathe-Genies. Nach Meinung des MINT-Experten wird Mathematik im Informatik-Studium mitunter etwas überbetont. „Wir müssen gerade auch die normal begabten Schülerinnen für ein Informatik- oder Technik-Studium begeistern“, meint der Gender-Forscher.
Das PDF der Expertise „MINT. Warum nicht? Zur Unterrepräsentation von Frauen in MINT, speziell IKT, deren Ursachen, Wirksamkeit bestehender Maßnahmen und Handlungsempfehlungen“ gibt es hier!
Weitere Links zu Hintergrundinformationen zum Dritten Gleichstellungsbericht sowie zu den Abläufen, Verfahren und Bestandteilen
Text und Medienkontakt: Andrea Weber-Tuckermann