In den Baumkronen der tropischen Regenwälder tobt das pralle Leben: Zahlreiche Insekten und Amphibien haben hier ihre „Kinderstuben“ eingerichtet. Außerdem gedeihen bis zu 60 Meter über dem Waldboden unbekannte Pflanzenarten sowie Viren und Bakterien. Bisher war der Lebensraum über den Wipfeln des Dschungels nur schwer für Forscher zugänglich – dabei birgt er wohl ungeahnte Heil- und Nutzpflanzen. Jetzt ermöglicht eine innovative, von Ulmer Forschern erdachte „Seilbahn“ einen sicheren Zugang zu den Baumkronen, ohne das Ökosystem zu stören. Ende September kann die Konstruktion im Nationalpark „Les Nouragues“ (Französisch-Guyana) in Betrieb genommen werden. Finanzielle und politische Schwierigkeiten sowie ein Doppelmord hatten das Projekt in den vergangenen 18 Jahren immer wieder zurückgeworfen.
„Auf der Welt gibt es bis zu 10 Millionen Lebewesen, von denen nur etwa 1,8 Millionen bekannt sind. Viele unentdeckte Arten leben in der Tiefsee oder in den Baumkronen tropischer Regenwälder“, sagt Professor Gerhard Gottsberger, ehemaliger Leiter der Ulmer Abteilung für Spezielle Botanik sowie des Botanischen Gartens. Den schwer zugänglichen Lebensraum Baumkrone zu erforschen, hat sich der 73-jährige Biologe zur Aufgabe gemacht. Aber was zeichnet die tropischen Baumwipfel aus? Die Blätterkronen sind in sich stark zergliedert und schaffen durch Wasseransammlungen Kleinstlebensräume mit einem stark differenzierten Mikroklima. Über die „Bewohner“ und ihre Wechselbeziehungen ist noch wenig bekannt. Dabei sind Baumkronen ein wichtiger Bestandteil des bedrohten Ökosystems Regenwald, das unser Weltklima mitbestimmt.
Wer die Kronen tropischer Wälder erkunden wollte, musste bisher ziemlich sportlich sein und die Bäume mit dem Kletterseil erklimmen. Komfortablere Alternativen wie fest installierte Hängebrücken oder sogar ein Kran stören das komplexe Zusammenspiel der Natur und lassen sich nicht in jedem Gelände realisieren. Bereits vor 24 Jahren hatten der Ulmer Professor Gottsberger und sein damaliger Mitarbeiter Joachim Döring (Universität Gießen) die zündende Idee. Eine Art Seilbahn sollte für einen permanenten, sicheren Zugang zu den „obersten Etagen des Tropenwalds“ sorgen. Die Konstruktion ist so einfach wie genial: Zwei bis zu 52 Meter hohe Masten werden mit einem Stahlseil verbunden. Ein drittes, bewegliches Seil, an dem die Gondel hängt, führt zu einem weiteren Mast. Die Gondel lässt sich elektrisch steuern und verschafft den Forschern Zugriff auf eine Fläche von rund 15 000 Quadratmetern. Das System COPAS (Canopy Operation Permanent Access System) ist beliebig erweiterbar – größere Bäume müssen nicht gefällt werden.
Der Ulmer Biologe hatte erwartungsgemäß keine Probleme, deutsche, französische und niederländische Forscherkollegen für die „Tropen-Seilbahn“ zu begeistern. Eine Anschubfinanzierung der Körber-Stiftung („Körber Preis für die Europäische Wissenschaft“) über 1,25 Millionen D-Mark ermöglichte bereits 1996 die Beauftragung von Stahlbaufirmen aus dem Ulmer Umland. Und auch Forschungsziele waren schnell definiert: Mithilfe des Systems wollten die Wissenschaftler die Verteilung und Artzugehörigkeit der Baumkronen-Bewohner erfassen sowie den Wasser- und Nährstoffhaushalt der Blätterkronen verstehen. Ihr weiteres Interesse galt der Produktion von Biomasse und der Reproduktionsbiologie der größtenteils unerforschten Lebensgemeinschaften in schwindelerregender Höhe.
Tropen-Seilbahn im Botanischen Garten getestet
Erste Tests verliefen hervorragend: „Im Jahr 2000 haben wir COPAS im Botanischen Garten der Ulmer Universität aufgebaut und ausprobiert“, so Gerhard Gottsberger. Wenig später sollte das System an seinen Bestimmungsort, das Naturschutzgebiet „Les Nouragues“ im südamerikanischen Französisch-Guyana, gebracht werden. Die internationale Gruppe hatte sich für das Überseedépartement entschieden, weil der „größte Regenwald der Europäischen Union“ relativ unberührt ist und eine Dachorganisation französischer Wissenschaftsorganisationen („Silvolab Guyane“) dort Forschungsstationen betreibt. Doch bereits die Schiffsreise stand unter keinem guten Stern: Irrtümlicherweise landete die Stahlkonstruktion auf einer Karibikinsel. Endlich am Bestimmungsort angekommen, bremsten dann finanzielle und technische Schwierigkeiten das Projekt aus.
„Um 2003 mussten wir einen weiteren Rückschlag erleben. Im Nationalpark wurde Gold gefunden, was Glücksritter anlockte. Negativer Höhepunkt des Goldrauschs war ein Doppelmord in einer Forschungsstation.“, erinnert sich der Ideengeber. Erst das Eingreifen der nicht gerade als zimperlich bekannten Fremdenlegion beendete die Anarchie im Regenwald. Mittlerweile ist das Gebiet wieder sicher und sogar malariafrei. Allerdings genießen viele Initiatoren von COPAS bereits den wohlverdienten Ruhestand – so auch Gerhard Gottsberger. Das hält den Ulmer Biologen jedoch nicht davon ab, zur Eröffnung der „Tropen-Seilbahn“ am 20. September nach Französisch-Guyana zu reisen und einige Tage später mit der Erforschung der Baumkronen zu beginnen.
„Keiner hat mehr an die Realisierung des Projekts geglaubt. Doch gerade ist unser System am Bestimmungsort von einem französischen Minister getestet worden“, sagt der Forscher. Sein erstes Projekt wird eine Insekten-Inventur und die Untersuchung der Bestäubungsbiologie auf den höchsten blühenden Bäumen sein. Ursprünglich sollten auch die Rolle von Ameisen für das Ökosystem Baumkrone, die Verbreitung von Samen durch Affen und Fledermäuse sowie etwa die Fortpflanzungs- und Ausbreitungsbiologie bestimmter Pflanzen – besonders von Epiphyten („Aufsitzerpflanzen“) – untersucht werden. Gerhard Gottsberger hofft, dass sich seine jungen Ulmer Kollegen für einige dieser Projekte begeistern können und betont: „Durch unsere Forschung zeigen wir hoffentlich auch, wie wichtig der Schutz des Regenwalds ist. Wer ihn zerstört, sägt am eigenen Ast“.
Verantwortlich: Annika Bingmann