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Männer werden anders krank als Frauen
Gender-Curriculum - Medizinstudierende lernen geschlechterdifferenzierte Medizin

Universität Ulm

Eine 70-jährige Patientin wird mit stechenden Schmerzen in der Brust in die Kardiologie eingeliefert. „Herzinfarkt" vermutete der diensthabende Arzt, doch die Untersuchungsergebnisse mögen nicht recht zu seiner Diagnose passen. Ulmer Studierende der Humanmedizin sollen künftig auch eine Stress-Kardiomyopathie (Broken-Heart-Syndrom) in Erwägung ziehen: Diese Funktionsstörung des Herzens trifft fast ausschließlich ältere Frauen nach seelisch oder körperlich belastenden Stresssituationen. Die Kardiomyopathie heilt oft innerhalb weniger Wochen ab - aber immerhin acht Prozent der Erkrankten sterben. Ab dem kommenden Wintersemester soll „Gender-Medicine", also geschlechterspezifische Medizin, Einzug in den Stundenplan der angehenden Ärztinnen und Ärzte halten. „Bestimmte Krankheiten kommen bei Frauen und Männern nicht nur unterschiedlich häufig vor, sondern äußern sich durch verschiedene Symptome. Dementsprechend ist eine geschlechterspezifische Diagnostik und Therapie vorteilhaft", erklärt Dr. Anja Böckers, eine der Initiatorinnen der Gender-Medizin in Ulm. Die neuen Lehrinhalte sind wissenschaftlich fundiert, denn nur so kann die Expertise der Studierenden künftigen Patienten in vollem Maße zugutekommen.

Während kaum ein Arzt die Berechtigung einer eigenständigen Kinder- und Jugendmedizin anzweifelt, ist die geschlechterdifferenzierte Medizin noch nicht ausreichend bekannt und akzeptiert. Dabei werden Frauen und Männer alleine aufgrund ihres typischen Körperbaus anders krank: Neben offensichtlichen Unterschieden in Gewicht und Größe sind auch ihre Gehirne etwas anders organisiert. Bei Frauen bestimmt oft der Östrogenspiegel den Krankheitsverlauf. „Das integrierte Curriculum ,Gender Medicine‘ ist ein entscheidender Schritt in der Weiterentwicklung der Ulmer Medizinerausbildung“, sagt Professor Tobias Böckers, Studiendekan der Medizinischen Fakultät.

In der Landespolitik ist das Thema Gender-Medizin bereits angekommen: Sowohl im baden-württembergischen Koalitionsvertrag als auch im Fakultätenvertrag des Ministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kunst (MWK)  mit der Universität Ulm steht die Forderung nach einer geschlechterdifferenzierten Medizin. Nach intensiven Beratungen haben sich die Ulmer Ideengeber Claudia Grab, Dr. Wolfgang Öchsner sowie Anja Böckers  gegen eine weitere Pflichtveranstaltung im zeitintensiven Studium entschieden. Vielmehr soll geschlechterdifferenzierte Medizin vom ersten bis zum zehnten Semester in alle Kernfächer einfließen: "Gynäkologie und Urologie sind beinahe reine Gender-Fächer.  Aber auch in Disziplinen wie der Schmerztherapie oder Psychiatrie sollten geschlechterspezifische Aspekte Beachtung finden", sagt Anja Böckers. Nach einer Bestandsaufnahme des Stundenplans habe man alle für das kommende Wintersemester vorgesehenen Dozenten kontaktiert und gemeinsam Genderaspekte in den Spezialgebieten identifiziert. Dazu können  geschlechterspezifische  Symptome beim Herzinfarkt und Schlaganfall gehören oder eben Themen wie Brustkrebs, Depressionen oder Osteoporose bei Männern.

Das integrierte Curriculum „Gender Medicine“ wird ab dem Wintersemester 2012/13 Pflichtbestandteil des Studienplans für Erstsemester. Generell stehen die Veranstaltungen allen Medizinstudierenden offen:  Besonders Interessierte können zusätzliche Vorlesungen oder Seminare aus dem Themenbereich belegen und so im Laufe ihrer Ausbildung die Schlüsselqualifikation "Genderkompetenz" erwerben. Die Lehrveranstaltungen werden durch zusätzliche Angebote auf der Online-Lernplattform "MOODLE" der Medizinischen Fakultät ergänzt.

Die Medizinische Fakultät der Universität Ulm ist bundesweit eine der ersten Fakultäten, an der Gender-Aspekte fest in das Humanmedizin-Curriculum integriert werden. Ohnehin hat innovative Lehre an der Medizinischen Fakultät Tradition. Kürzlich sind Dozenten um Anja Böckers für ihr Konzept "Teach the Tutor" (schule den Tutor) mit einem "Fellowship für Innovationen in der Hochschullehre" ausgezeichnet worden. Die Idee: Leistungsstarke, engagierte und speziell geschulte Studierende unterrichten Kommilitonen in niedrigeren Fachsemestern. Die Baden-Württemberg Stiftung fördert das Konzept mit 50 000 Euro. Das klinische Wahlfach "Doc TV – Arzt/Ärztin sein in Film und Wirklichkeit" ist ebenfalls ein voller Erfolg. Unter Anleitung von Professor Heiner Fangerau, Direktor des Instituts für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, sowie Anja Böckers analysieren Studierende das Handeln von Fernsehärztinnen und –ärzten  aus beliebten Serien - auch im Hinblick auf Gender-Aspekte.

Koordiniert wird die  Entwicklung und Einführung des Gender-Curriculums von der Leiterin des Studiendekanats der Medizinischen Fakultät, Diplom-Pädagogin Claudia Grab, und von Dr. Wolfgang Öchsner, Oberarzt in der Abteilung Kardioanästhesiologie des Klinikums und Referent im Studiendekanat. Bei allen Fragen steht ihnen die ehemalige Fakultäts-Gleichstellungsbeauftragte, Dr. Anja Böckers (Institut für Anatomie und Zellbiologie), beratend zur Seite. Sowohl Anja Böckers als auch Wolfgang Öchsner haben ein medizindidaktisches Zusatzstudium zum "Master of Medical Education" erfolgreich abgeschlossen.

Von Annika Bingmann