Wissenschaftler der Saar-Uni sowie der Universitäten Tübingen und Ulm haben mit weiteren Forschergruppen eine seltene Schädigung des Hörsystems an Labormäusen beobachten können, die sich deutlich von klassischen Hörschäden unterscheidet. Die Übertragung der Erregung des Hörnervs läuft langsamer und schwächer ab als bei den gesunden Mäusen. Damit haben die Forscher einen Grundstein für weitere Arbeiten gelegt, die klären können, ob eine ähnliche Schädigung auch beim Menschen auftritt. Die Wissenschaftler haben ihre Ergebnisse in der Fachzeitschrift „The Journal of Neuroscience“ veröffentlicht. Koordiniert wurden die Forschergruppen von Jutta Engel, Professorin für Biophysik an der Saar-Uni (Foto ganz unten).
Zu hören ist für die meisten Menschen eine Selbstverständlichkeit. Wie wichtig diese Sinneswahrnehmung ist, fällt meist erst dann auf, wenn das Gehör im Alter nachlässt oder nach einem Unfall geschädigt wird. Sich mit anderen Menschen zu unterhalten, ist dann oft äußerst schwierig, vor allem in einer lauten Umgebung. Mit dem Hörschaden einher gehen auch oft Probleme, sich im Alltag zu orientieren. Die Geschädigten nehmen Geräusche in ihrer Umgebung, beispielsweise im Straßenverkehr, nicht mehr richtig wahr und sind dadurch gefährdet.
Die Erstautorinnen Simone Kurt (Uni Ulm) und Antonella Pirone (Uni Tübingen) sowie weitere Forscherinnen und Forscher haben in ihrer nun veröffentlichten Studie eine spezielle Maus untersucht, deren Hörsystem Reize an Synapsen langsamer und schwächer überträgt als dies normalerweise der Fall ist. Ihre Ergebnisse könnten Anknüpfungspunkte bieten, um bestimmte Hörschädigungen des Menschen besser zu verstehen.
Bei den Mäusen fehlt eine Untereinheit der Kalziumkanäle
Ein gesundes Gehör funktioniert so: Schallwellen werden im Ohr in ein elektrisches Signal umgewandelt, das der Hörnerv an das Gehirn weiterleitet. Am Nervenende führt das elektrische Signal zu einer Aufnahme von Kalzium, welches dann mittels Botenstoffen dafür sorgt, dass das Signal auf die nachgeschaltete Nervenzelle weitergegeben wird. Erst nach mehreren solcher Übertragungen wird das Schallereignis bewusst wahrgenommen. Das Kalzium strömt durch Kalziumkanäle in die Nervenenden (auch Präsynapsen genannt). Bei den untersuchten Mäusen fehlt ein bestimmter Teil dieser Kalziumkanäle, eine Untereinheit namens α2δ3. Die Rolle dieser Untereinheit für die Kalziumkanäle ist bisher nur unzureichend geklärt. Dieser sind die Wissenschaftler nun weiter auf die Spur gekommen.
Die α2δ3-defizienten Mäuse haben nur geringfügig erhöhte Hörschwellen. Sie würden daher eigentlich als normalhörend eingestuft werden. Die gemessenen Nervensignale jedoch, die beim Hören entstehen, wichen deutlich von den Normalwerten ab. Das ist ein Hinweis auf eine so genannte auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung. Die Hörnervenzellen der modifizierten Mäuse haben insgesamt weniger Kalziumkanäle, und die Hörnervenfasern endeten in kleinen und wenig differenzierten Präsynapsen. Gegenüber den gesunden Mäusen wurden die Signale an dieser wichtigen Umschaltstelle mit einer größeren zeitlichen Verzögerung weitergeleitet, und ihre Signalstärke war abgeschwächt.
Für den Hörtest wurden die Mäuse in einem speziellen Parcours trainiert
Doch welche Auswirkung haben diese Defekte auf die Wahrnehmung und Unterscheidung von Schallereignissen? Um dies zu klären, trainierte Simone Kurt die Mäuse, zwei verschiedene Tonhöhen durch ihr Verhalten zu unterscheiden. Diese Aufgabe konnten die genetisch veränderten Mäuse gut bewältigen, auch wenn sie etwas mehr Zeit zum Lernen benötigten als die normalen Mäuse. In einem weiteren Versuchsansatz erhöhte die Wissenschaftlerin die Anforderungen. Die Tiere sollten nun amplitudenmodulierte Töne unterscheiden - Töne, die periodisch lauter und leiser werden. Solche zeitlich strukturierten Signale spielen bei vielen natürlichen Lauten, vor allem bei der Kommunikation bei Menschen und Mäusen, eine entscheidende Rolle. Sie sind auch wichtig für die Ortung und Unterscheidung von Schallquellen. Während die Kontrollmäuse innerhalb weniger Tage lernten, 20 Hz-modulierte von 40-Hz-modulierten Tönen gleicher Trägerfrequenz zu unterscheiden, scheiterten die α2δ3-defizienten Mäuse an dieser Aufgabe.
Dieses Ergebnis ist Ausgangspunkt für weitere Forschungen, die dabei helfen können, menschliche Hörstörungen zu verstehen. Beim Menschen sind Schwerhörigkeit bzw. Taubheit die häufigsten angeborenen sensorischen Störungen, deren Ursache überwiegend im Mittelohr oder im Innenohr liegt. Störungen jenseits des Innenohrs, wie sie nun bei der Maus beobachtet wurden, sind hingegen selten. In Analogie zu den untersuchten Mäusen würde das Krankheitsbild beim Menschen bedeuten, dass Sprache zwar als Schallereignis wahrgenommen wird, aber das Gehörte nicht verstanden werden kann. Die vorliegende Arbeit liefert Erklärungsmöglichkeiten für solche Krankheitsbilder. Veröffentlicht wurde die von Professorin Jutta Engel (Saar-Uni) koordinierte Studie in der Fachzeitschrift „The Journal of Neuroscience“.
Thorsten Mohr, Pressestelle der Universität des Saarlandes
Dr. Simone Kurt ist seit 1.7.2013 Juniorprofessorin im Exzellenzcluster "Hearing4all" an der Klinik für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde der Medizinischen Hochschule Hannover. Bis dahin war sie Arbeitsgruppenleiterin am Institut für Neurobiologie an der Universität Ulm, wo sie sich im November letzten Jahres habilitiert hat.