Geraten Antigene des Zentralen Nervensystems (ZNS) mit dem Ausfluss von Liquor, der Gehirn- und Rückenmarksflüssigkeit also, entlang von Nervenbahnen in das Gewebe des Umfeldes und können dort interagieren? „Dies ist aufgrund einer Reihe virologischer Untersuchungen inzwischen klar, könnte aber auch ein völlig neues Licht zum Beispiel auf chronische Schmerzzustände werfen, auch bei Hirnhautentzündungen, Depressionen oder Schizophrenie relevant sein und könnte bei allen Entzündungsvorgängen des ZNS eine Rolle spielen“, berichtet Professor Karl Bechter, Chefarzt der Abteilung Psychotherapeutische Medizin/Psychosomatik der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie II der Universität Ulm. Bei einem internationalen Expertentreffen im Wissenschaftszentrum Schloss Reisensburg sowie im benachbarten Bezirkskrankenhaus Günzburg hat er diese Überlegung („noch ist es zum Teil pure Spekulation“) vorgestellt und dafür auch von verschiedenen Seiten Unterstützung erhalten.
Könnte seine Hypothese belegt werden, sagt Bechter, dürfte dies weitreichende Folgen für Therapieansätze beinhalten, etwa auch bei schwer traumatisierten oder Sepsis-Patienten. Und der Ulmer Wissenschaftler, der sich in seinen Forschungsarbeiten seit mehr als zwei Jahrzehnten mit Zusammenhängen zwischen psychischen Erkrankungen und Infektionen beschäftigt, geht sogar noch weiter: „Womöglich ist die Annahme auch relevant für die Ausbreitung von Tumoren mit dem Nervenwasser.“ Dass eine gemeinsame Forschergruppe (Ulm/Günzburg, Rostock/Heidelberg, Marburg) zumindest in einem Fall Leukämiezellen im Liquor und entlang der Nervenbahnen festgestellt habe, „passt jedenfalls exakt zu meiner Theorie“. Die kann selbst für Augenkliniker interessant sein, „denn der Liquor fließt ja auch ins Auge.“
Zentrales Thema der Tagung, zu der sich rund 80 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Deutschland, Australien, China, Brasilien und zahlreichen europäischen Ländern versammelt hatten, waren allerdings Gen-Umwelt-Interaktionen in der Psychoneuroimmunologie. Für Gastgeber Bechter, gemeinsam mit seinen Magdeburger Kollegen Professor Bernhard Bogerts und Privatdozent Dr. Johann Steiner zugleich Leiter der viertägigen Austauschs, mit einer durchaus ergiebigen Bilanz: „Viele neue Befunde vor allem aus epidemiologischen, klinischen und experimentellen Forschungen zum Thema.“
Wie die Ergebnisse einer dänischen Forschergruppe um Professor Michael Benros von der Universität Aarhus zum Beispiel. Sie konnte jetzt definitiv belegen, dass sowohl schwere Infektionskrankheiten als auch Autoimmunerkrankungen als Verursacher psychischer Auffälligkeiten eine Rolle spielen können, berichtet der Organisator über den Vortrag Benros’, dessen epidemiologische Arbeiten sich auf das nationale dänische Krankheitszentralregister stützen. „Eine ebenso riesige wie präzise und über mehr als 30 Jahre hinweg angelegte Datensammlung“, wie Bechter nicht ohne Bewunderung erfahren konnte.
Ein wenig neidisch überdies, „denn vergleichbare Register wären bei unseren Datenschutzbestimmungen undenkbar“.
Dabei seien gerade epidemiologische Ansätze für viele Nachweise von zentraler Bedeutung, nicht zuletzt beim Zusammenspiel von Genen, Umweltfaktoren und Immunsystem bei der Auslösung psychischer Erkrankungen, Bechter zufolge das Schlüsselkonzept bei der Ursachenforschung. Dass Umwelteinflüsse eine Rolle spielten, sei inzwischen belegt. „Aber welche, das ist zumeist noch unklar.“ Nur die jeweilige Populationsdichte als Faktor sei sehr gut nachgewiesen. Epidemiologen mithin als unverzichtbare Co-Autoren eher Labor-orientierter Disziplinen wie Neurologie, Neurobiologie, Virologie, Bakteriologie, Immunologie, auch der Psychiatrie?
Professor Karl Bechter weiß um das Dilemma klinisch-wissenschaftlicher Beweisführung für die Rolle unterschiedlicher Einzelfaktoren, unabhängig von inzwischen ziemlich aussagefähigen protein- und zellanalytischen Verfahren bei Untersuchungen von Blut und Nervenwasser zum Beispiel, auch von ständig verbesserten bildgebenden Verfahren. Aber: Wohl könne mitunter ein Erreger ursächlich wirken, doch meistens resultiere eine Erkrankung aus einem komplexen Zusammenspiel der genannten drei Faktoren. Umgekehrt freilich trete bei der Mehrzahl von mit einem bestimmten Erreger infizierten Personen gar keine Erkrankung auf – eigentlich günstig für den Infizierten, für den Nachweis eines Einzelfaktors indes „eine echte Herausforderung“.
Wobei, soviel ist seit geraumer Zeit Konsens, mehr als ein Dutzend Viren und Bakterien als Erreger für psychische Erkrankungen in Frage kommen. Herpes etwa, Mumps, Chlamydien, Borrelien und einige andere mehr, auch das legendäre Borna-Virus, lange Zeit nur bei Pferden und Schafen vermutet. Bis Virologen der Uni Gießen erste Nachweise beim Menschen vorgelegt haben, wie Bechter erläutert. Und eben beim Menschen könnte das Virus als Auslöser enzephalitischer Krankheitsbilder für zwei bis drei Prozent psychiatrischer Erkrankungen eine Rolle spielen, zum Teil auch bei neurologischen. Für die so genannte „milde Enzephalitis“ immerhin gebe es bereits zuverlässige Befunde, laut Karl Bechter freilich ein extrem schwieriges Unterfangen, weil die Erreger im Gehirn kaum nachzuweisen seien. Gelungen ist immerhin zusammen mit Professor Hansotto Reiber, dem „führenden Liquor-Diagnostiker“ und in Günzburg ebenfalls präsent, in einer 2010 publizierten Studie bei 40 Prozent schwerer psychischer Erkrankungen leichte Veränderungen des Liquors zu zeigen, die mit geringfügiger Entzündung erklärt werden könnten. Nicht zuletzt zur Freude Karl Bechters, der sich mit der Thematik schon 1999 in seiner Habilitationsschrift beschäftigt hatte: „Bisher habe ich von den seinerzeit vertretenen Ergebnissen nichts zurücknehmen müssen.“
Von Willi Baur