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Degenerierte Bandscheiben oft genetisch bedingt:
Mehr Lebensqualität bei Rückenschmerzen angestrebt

Universität Ulm

Das „Kreuz mit dem Kreuz“, wie Rückenschmerzen gerne umgangssprachlich bezeichnet werden, ist weit verbreitet. Die Ratlosigkeit über Ursachen und Therapiemöglichkeiten der Volkskrankheit auch. „In 85 Prozent der Fälle mit Wirbelsäulenproblemen gibt es keinen klinischen Konsens über die Behandlungsformen zwischen den verschiedenen Ländern und Ärzten“, sagen Dr. Cornelia Neidlinger-Wilke und Professor Hans-Joachim Wilke vom Institut für Unfallchirurgische Forschung und Biomechanik der Universität Ulm. Das Forscher-Ehepaar beschäftigt sich hier intensiv mit der Degeneration von Bandscheiben, häufig die Ursache von Rückenschmerzen.

Die daraus resultierenden Beeinträchtigungen der Lebensqualität bei den Betroffenen hat inzwischen auch die EU erkannt, ebenso die enorme ökonomische Belastung für die Gesellschaft. Mit fast drei Millionen Euro fördert sie über fünf Jahre das interdisziplinär und international angelegte Forschungsprojekt GENODISC, in dessen Rahmen neue diagnostische Verfahren und Therapien bei der Bandscheibendegeneration entwickelt werden sollen. Beteiligt daran: Genetiker, Zellphysiologen, Ingenieure und Spezialisten auf den Gebieten regenerative Medizin und Computeranalyse mit Unterstützung von Chirurgen und Orthopäden. Wobei sich die Institute auf nicht weniger als zehn Ländern verteilen, koordiniert übrigens von Dr. Jill Urban (Universität Oxford/England). Und mit dabei aus gutem Grund eben auch das Ulmer Institut: „Ich kenne kein anderes Institut weltweit, das in dieser Kombination alle Untersuchungsmethoden abdeckt“, erklärt Professor Wilke nicht ohne Stolz und Gattin Cornelia verweist auf die Beteiligung der Ulmer Wissenschaftler an einem früheren EU-Projekt ähnlicher Ausrichtung, „allerdings eher im Bereich der Grundlagenforschung“. Dagegen sei das jetzt angelaufene und weitaus umfangreichere Forschungsvorhaben bereits „vorwiegend klinisch orientiert“, ermögliche aufgrund der zahlreichen Partner auch deutlich größere Fallzahlen.

Ganz besonders wichtig allerdings: „Wir können auf den Ergebnissen des ersten Projekts aufbauen“, so Neidlinger-Wilke. Konkret: „Demnach spielen genetische, also erbliche Einflüsse bei der Bandscheibendegeneration eine große Rolle.“

Eine wesentlich größere Rolle jedenfalls als in der Vergangenheit angenommen. Da seien die Ursachen eher mechanischen Überbelastungen der Wirbelsäule zugeschrieben worden. „Das stimmt aber nur zum Teil“, erläutert Hans-Joachim Wilke, „selbst sehr starke Belastungen haben einen eher untergeordneten Einfluss“. Folglich stünden bei der Fragestellung jetzt die genetischen Ursachen im Vordergrund, daneben aber auch die mechanischen Konsequenzen, den Einfluss der Bandscheibendegeneration auf die benachbarten Wirbelsäulenstrukturen also. Darauf konzentriert sich das eine der beiden Ulmer Teilprojekte, auf mögliche zellbiologische Ursachen für den Verschleiß des Bandscheibengewebes das andere.

Für den biomechanischen Part entwickelt Professor Wilke mathematische Wirbelsäulenmodelle, mit deren Hilfe die Auswirkungen der Degeneration auf andere Wirbelsäulenstrukturen untersucht werden können, auf die kleinen Wirbelgelenke etwa, nicht selten die eigentliche Ursache von Rückenschmerzen. Zurückgreifen kann er dabei auf eine umfangreiche Datenbank. „Mit den Ergebnissen aus 15 Jahren Forschung, aber auch einer Vielzahl neuer experimenteller Untersuchungen“, erklärt der selbst interdisziplinär ausgebildete Wissenschaftler, Diplom-Ingenieur mit einem abgeschlossenen Maschinenbaustudium an der Universität Stuttgart, später als Humanbiologe promoviert (summa cum laude) und in Experimenteller Chirurgie habilitiert.

Gattin Cornelia, ebenfalls summa cum laude in Humanbiologie promoviert, widmet sich derweil in ihrem Projekt biomechanischen und biochemischen Einflüssen auf die Bandscheibenzellen. Druck und Dehnung also zum einen, der Nährstoff- und Sauerstoffversorgung zum anderen, allesamt mögliche Einflussfaktoren für den Abbau des Gewebes. „Die Bedingungen, denen Bandscheibenzellen bei der Degeneration ausgesetzt sind, können wir im Labor simulieren“, erklärt Dr. Neidlinger-Wilke. Stets im Blick sei dabei indes die Korrelation mit genetischen Untersuchungen. Ferner beschäftige sie sich mit der Rolle von Entzündungsfaktoren bei der Regulation des degenerativen Gewebeabbaus und nicht zuletzt mit der Entwicklung eines biologischen Bandscheibenersatzes, dem so genannten Tissue Engineering. Dabei werden der Forscherin zufolge Bandscheiben- und adulte Stammzellen auf ihre biologischen und mechanischen Wechselwirkungen untersucht mit dem Ziel, künftig patienteneigene Zellen zur Regeneration degenerierter Bandscheiben zu nutzen, „den Schmerz ohne größere chirurgische Eingriffe zu lindern“, wie sie sagt.

Allerdings: „Es ist sehr fraglich, ob das überhaupt funktioniert“, zeigt sich Neidlinger-Wilke skeptisch. Vielmehr sei zumindest nicht auszuschließen, dass das gezüchtete Gewebe durch negative Faktoren ebenso zerstört werde wie zuvor das natürliche.

Unabhängig davon: Erkenntnisse über molekulare Mechanismen der Degeneration, ein Kernziel des Projekts, wären aus Sicht des Ulmer Forscherpaars ein entscheidender Schritt für die Entwicklung besserer Diagnosemethoden und Erfolg versprechender Therapieansätze. „Damit soll bei Patienten mit akuten Rückenschmerzen verhindert werden, dass diese zu chronischen Schmerzpatienten werden.“

Mit mathematischen Finite-Elemente-Modellen können die Belastungn bei verschiedenen Tätigkeiten auf die unterschiedlichen Wirbelsäulenstrukturen berechnet werden.