CrowdDNA: Massenpanik frühzeitig erkennen
EU-Projekt erfasst Bewegung von Menschenmassen

Universität Ulm

Forschende aus Frankreich, Deutschland, Spanien und dem Vereinigten Königreich arbeiten gemeinsam an der Entwicklung eines Crowd-Management-Instruments, das gefährliche Bewegungen in sehr dichten Menschenansammlungen automatisch erkennen und so die Entstehung einer Massenpanik verhindern soll. Gefördert wird CrowdDNA von der Europäischen Union im Rahmen des Horizon 2020 Förderprogramms „Future Emerging Technology“. Das Projekt, das vom französischen Institut National De Recherche en Informatique et en Automatique (INRIA) geleitet wird, erhält für dreieinhalb Jahre eine Förderung in Höhe von 3 Millionen Euro. Beteiligt an dem Verbund sind auch Wissenschaftler der Universität Ulm.

Erstickt, niedergetrampelt, erdrückt: Jedes Jahr sterben auf der Welt unzählige Menschen bei Großveranstaltungen oder Megaevents durch eine Massenpanik. Egal ob dies im Sport, im Kulturbereich oder bei religiösen Anlässen passiert. Solche Katastrophen geschehen häufig sogar auf offenem Gelände mit ausreichend Platz für alle. „Doch wenn sich die Menschen an einem bestimmten Ort zusammenrotten und der Einzelne keinen Spielraum mehr hat, um auszuweichen, wenn er den Druck der Masse am eigenen Leib spürt, dann wird es gefährlich“, erklärt Professor Julien Pettré vom Institut National de Recherche en Informatique et en Automatique (INRIA). Der französische Informatiker koordiniert das internationale Verbundprojekt „CrowdDNA“, das von der EU im Rahmen von Horizon 2020 mit 3 Millionen Euro gefördert wird. In dem Projekt forschen Informatiker, Psychologen und Biologen daran, das Auftreten von lokal verdichteten Hotspots automatisch zu erfassen. Das Ziel: unkontrollierte Bewegungen von Menschenmassen frühzeitig erkennen, um rechtzeitig gegensteuern zu können. Dafür soll ein KI-basiertes Softwareinstrument entwickelt werden, das den Organisatoren von Großveranstaltungen und den zuständigen Behörden hilft, Massenevents sicherer zu machen. Zu den wissenschaftlichen Einrichtungen, die an dem Verbundprojekt beteiligt sind, gehören neben INRIA die Universitäten Leeds, Madrid (URJC) und Ulm sowie das Forschungszentrum Jülich. Als Unternehmen mit dabei sind Onhys (F) und Crowd Dynamics International (UK).

„Es gibt leider keine einheitlichen Schwellenwerte, die festlegen, ab welcher Menschendichte mit gefährlichen Interaktionen zu rechnen ist. Das ist nicht nur von kulturellen Kontexten, sondern auch von sozialen Faktoren und örtlichen Gegebenheiten abhängig“, erklärt Professor Marc Ernst. Der Leiter der Abteilung für Angewandte Kognitionspsychologie der Universität Ulm koordiniert ein Teilprojekt von CrowdDNA. Die Herausforderung besteht nun für die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen vor allem darin herauszufinden, wann die physischen Kontakte zwischen Menschen ein kritisches Maß übersteigen. Dafür werden biomechanische und verhaltenswissenschaftliche Ansätze kombiniert und in experimentellen „Schubs- und Stolperstudien“ validiert. Welche Kräfte braucht es an welchen Stellen des Körpers, um einen Menschen aus dem Gleichgewicht zu bringen? Welche Rolle spielen bei Stürzen Faktoren wie Untergrund, Hindernisse und Beinfreiheit? Wie reagieren Menschen, wenn sie im Gedränge geschubst werden? Macht es einen Unterschied, ob Stöße erwartet oder unerwartet kommen? Während an der Universität Ulm dazu Bewegungs- und Kraftanalysen an einzelnen Personen durchgeführt werden, arbeitet das Team des Forschungszentrums Jülich in seinen „Schubs- und Stolperexperimenten“ auch mit Gruppengrößen zwischen 10 und 100 Personen.

Mit Künstlicher Intelligenz werden aus den experimentellen Daten physikalische Modelle

Doch wie führen nun die lokalen Interaktionen von Einzelnen zu großräumigen Bewegungen von Menschenmassen? Auf der Grundlage der experimentellen Datensammlungen entwickeln Computerwissenschaftler der Universität Leeds und der König Juan Carlos Universität Madrid (URJC) mit Hilfe KI-basierter Verfahren wie dem Maschinellen Lernen physikalische Simulationsmodelle für große Gruppen. Diese machen es möglich, dem Einfluss unterschiedlichster Faktoren Rechnung zu tragen: von der Dichte und Homogenität großer Menschenmassen bis hin zum Ort und zur Stärke von Interaktionskräften. Diese Simulationsmodelle bilden wiederum die Ausgangsgrundlage zur Entwicklung der Software-Tools zur Analyse von Massenbewegungen. Bewegt sich die Menschenmenge normal? Oder zeigt sie Ausbreitungszeichen, die darauf hindeuten, dass Menschen in zu engem Kontakt miteinander stehen? Um Fragen wie diese zu beantworten, nutzt das Analyse-Tool beispielsweise Videomaterial aus der Kameraüberwachung oder andere Datenquellen aus der Infrastruktur von Großveranstaltungen. Stößt das automatische Erkennungssystem auf problematische Bewegungsmuster, schlägt es Alarm. Die am Projekt beteiligten Unternehmen Onhys und Crowd Dynamics International helfen schließlich dabei, die Ergebnisse schneller in die Anwendung zu bringen.

CrowdDNA soll eine neue Generation von Simulatoren für Menschenmengen liefern, die in der Lage sind, die Dynamik und das Verhalten von Massenbewegungen mit extremer Dichte vorherzusagen und relevante Risikofaktoren zu bestimmen. „Unser Analyse-Tool nutzt makroskopische Daten, beispielsweise die Bewegungsinformationen von Menschenmengen, um daraus wertvolle Informationen über potentiell gefährliche lokale Interaktionen zwischen Personen zu gewinnen. Das ist natürlich ein großer Vorteil gegenüber Systemen, die auf der kleinräumigen Beobachtung von Bildausschnitten bauen, und die viel mehr Zeit für eine umfassende Bestandsaufnahme brauchen“, sind die Wissenschaftler überzeugt. „Wir suchen nicht nach der Nadel im Heuhaufen, sondern wir betrachten sozusagen den Heuhaufen dabei, wie er sich verändert, wenn die Nadel hineinfällt“, so Professor Marc Ernst.

Weitere Informationen gibt es auf den Webseiten zu CrowdDNA von INRIA und der EU

Text und Medienkontakt: Andrea Weber-Tuckermann

 

 

Zuschauer eines großen Rockkonzerts
Damit aus der Freude keine Panik wird: Im Projekt CrowdDNA wird zur automatisiersten Erfassung von kritischen Interaktionen in Menschenmassen geforscht. Im Bild Zuschauer eines großen Rockkonzerts (Shutterstock / Anthony Moorey)
Ein Proband beim Stoßexperiment am Forschungszentrum Jülich
Ein Proband beim Stoßexperiment am Forschungszentrum Jülich. Ähnliche Experimente werden in Kürze auch an der Universität Ulm durchgeführt. Dabei wird nicht nur die Stärke und der Zeitverlauf des Stoßes, sondern auch die Stoßstelle am Körper und der Zustand der Versuchsperson erfasst (Foto: Prof. Marc Ernst / Uni Ulm)
Demo-Film zu den Stoß- und Stolperexperimenten, die am Forschungszentrum Jülich unter den vorgeschriebenen Corona-Schutzmaßnahmen durchgeführt wurden (Prof. Marc Ernst / Uni Ulm)
v.l.: Prof. Julien Pettré vom INRIA mit Prof. Marc Ernst von der Universität Ulm
v.l.: Prof. Julien Pettré vom Institut National de Recherche en Informatique et en Automatique (Foto links: INRIA) mit Prof. Marc Ernst von der Universität Ulm (Foto rechts: Elvira Eberhardt / Universität Ulm).