„Freiheit – Forschung – Gehirn – Religion“ ist seine letzte Publikation überschrieben, ergänzt um den Untertitel „Wege durch dichtes Gelände“. Das nur äußerlich schlichte Büchlein, erschienen erst vor einigen Monaten, liest sich wie das wissenschaftliche und persönliche Vermächtnis des Verstorbenen. Dass der Autor hier weitgehend auf eigene Vorträge in den Jahren 1969 bis 2009 zurückgreift, reduziert weder die Aktualität noch die Brisanz seiner Thesen. Vielmehr geben die einzelnen Kapitel in kompakter Form eben jene Erkenntnisse, Überzeugungen und Meinungen Kornhubers wieder, für die der gebürtige Ostpreuße (Königsberg) zeitlebens gearbeitet, geworben und nicht selten auch gestritten oder gekämpft hat. Kantig gelegentlich und stets mit klaren, offenen Worten, fraglos auch geprägt von den frühen Erfahrungen seiner Generation: Krieg, Kriegsgefangenschaft, Fleiß, Disziplin. Mit 16 Jahren Pionier an der Ostfront, später fast fünf Jahre in sowjetischer Gefangenschaft – viel, im Grunde zuviel für „eine empfindliche Seele“, die er sich selbst zuschrieb. Vielleicht aber eine Erklärung für sein Verhalten als Arzt und als Vorgesetzter, das ihm langjährige Kollegen und Mitarbeiter übereinstimmend bescheinigten: „Sensibel wie kein anderer, unendlich geduldig und einfühlsam, ein ‚echter’ Arzt und zugleich ein fördernder, fordernder und gerechter Vorgesetzter.“
Ausgestattet überdies mit beispielhafter Tatkraft und Energie, einer Gabe, die ihn bis zuletzt begleitete. Die ihm selbst schon im Studium die Realisierung seines Credos ermöglichte, für das er sich später als Ordinarius unermüdlich einsetzte: Die Warnung vor Schmalspurmedizinern. Lüder Deecke, sein ehemaliger Doktorand, später Kollege und Freund, von der Universität Wien als Neurologie-Professor ebenfalls schon seit Jahren emeritiert, hat zum 75. Geburtstag des Verstorbenen einige Fakten zum Pensum des jungen Kornhuber überliefert. Tagsüber Medizinstudium, nachts Philosophie und die großen Werke der Weltliteratur. Später tagsüber Oberarzt in der Klinik, abends und nachts schwierigste neurophysiologische Experimente, gleichwohl noch wegweisende Publikationen und Handbuchartikel.
Wie 1964 die Entdeckung des zerebralen Bereitschaftspotentials vor gewollten menschlichen Bewegungen und Handlungen, bekanntlich zusammen mit Deecke, unstrittig seine größte Leistung als Forscher und der wissenschaftliche Durchbruch schlechthin, weltweit mit höchster Aufmerksamkeit verfolgt und mit vielen hochkarätigen Ehrungen und Auszeichnungen gewürdigt.
Fast ein wenig tragisch, dass vor diesem Hintergrund mehrere weitere bahnbrechende und bis heute anerkannte Forschungsergebnisse Kornhubers etwas in den Schatten geraten sind. Zur Vielfalt von Gleichgewichts- und Blickstörungen etwa, über das Zusammenspiel von Gleichgewicht und Lagesinn oder die Entdeckung des Augenmuskelfeldes im Kleinhirn. Aber zu gewichtig waren eben auch die Randaspekte der noch in Freiburg entstandenen Arbeit über die menschliche Willensfreiheit, von der philosophischen Komponente bis zu strafrechtlichen Konsequenzen. Ganz abgesehen von einer späteren kontroversen, zum Teil gar erbitterten Diskussion über die seinerzeitigen Ergebnisse, ausgelöst durch deren Infragestellung seitens jüngerer Hirnforscher und noch im Sommer vergangenen Jahres ausgetragen auch in namhaften Medien.
Da hatte „HHK“, wie er sich gerne selbst nannte und dem Vernehmen nach auch in seiner Dietenbronner Klinik respektvoll genannt wurde, sein Ulmer Lebenswerk schon längst abgeschlossen. Seine damit verbundenen Verdienste gleichermaßen kompakt wie angemessen darzustellen, erscheint schlichtweg unmöglich. Nur erinnert sei an den mühsamen Aufbau der Neurologischen Universitätsklinik in Dietenbronn, später auch in Ulm, quasi aus dem Nichts entwickelt zu einer überaus angesehenen Klinik. An die Gründung einer Sprachschule und Schule für Sprachtherapeuten, Deecke zufolge die erste in Deutschland und mit ihrem Curriculum beispielgebend für alle folgenden. An eine Vielzahl weiterer Forschungsarbeiten über die Multiple Sklerose, über Ursachen des Bluthochdrucks, zu neurogenen Blasenstörungen und über den plötzlichen Kindstod, über Epilepsie und Schizophrenie, über die Rolle des Glutamats bei verschiedenen Therapien und über viele weitere Fragen mehr.
Erinnert sei ferner an Professor Hans Helmut Kornhubers unermüdliches Engagement in Sachen Erziehung und Bildung, dokumentiert nicht zuletzt durch die Einrichtung des Studium generale 1977, eine geisteswissenschaftliche Ersatzlösung gewissermaßen mit einem breit gefächerten Vortragsprogramm und vielen prominenten Rednern aus Wissenschaft, Kunst, Literatur und Politik insbesondere. Rund 20 000 Deutsche Mark sammelte er binnen kurzem für die Bestückung der Studium generale-Bibliothek, viel Geld damals und auch Ausdruck des Respekts, den sich der Gründungsprofessor schon in seinen ersten elf Ulmer Jahren erworben hatte. Denn an die 1967 gegründete Universität berufen worden war er schon im Jahr 1966, als 38-Jähriger also. Ihr verbunden war er bis zuletzt. Seine Verdienste werden bleiben.