Ein fraglos ungewöhnlicher Abschied in Raten also, freilich aus gutem Grund. Jedoch kein endgültiger: Kinzl, Anfang Juli 65 geworden, bleibt der Uni als Sprecher des Musischen Zentrums verbunden. Seinem ureigenen Fach natürlich auch, allerdings nicht in Ulm. Nach wie vor warten weltweit Patienten auf den Spezialisten für Wirbelsäulen, Hüft- und Kniegelenke. In Ägypten demnächst, in Saudi-Arabien und im Jemen, wo er vier Wochen lang ausschließlich Kinder operieren will.
„Man muss da einfach helfen“, sagt der Chirurg, dem von vielen Seiten ein „goldenes Händchen“ attestiert wird. Das Signal zum Aufbruch jeweils: „Wenn mich Freunde rufen, wohin auch immer auf der Welt.“ In Ulm dagegen habe er seit dem Chefarzt-Wechsel „das Messer nicht mehr in die Hand genommen“. Aus Prinzip nämlich, basierend auf leidvoller eigener Erfahrung. Der einzige handfeste Krach mit seinem Vorgänger, Freund und Mentor Professor Caius Burri entzündete sich Kinzl zufolge an unterschiedlichen Therapie-Vorstellungen bei einem Patienten. Dabei hatte Burri seinerzeit seinem Nachfolger ebenso den Karriere-Weg geebnet wie jetzt Professor Kinzl seinem früheren Oberarzt Professor Florian Gebhard. Der hatte vor knapp zwei Jahren einen Ruf aus Würzburg, „als Bester auf dem Markt, den wir nicht gehen lassen konnten“, so sein Vorgänger. Dafür ging Lothar Kinzl, freiwillig und im besten Einvernehmen. „Es war eine gute Entscheidung“, erklärt er rückblickend, „Gebhard hat unser Programm weitergeführt und ich bin in der Klinik immer noch gerne gesehen“.
Künftig wohl seltener. Denn seine Prioritäten hätten sich verschoben, schmunzelt der Emeritus in spe. Malen, Operieren, Musisches Zentrum laute inzwischen die Reihenfolge, lässt der Hobby-Künstler durchblicken. Eher Zufall freilich seine Verbundenheit mit Burri auf diesem Sektor. „Mit dem Zeichnen habe ich schon früh angefangen und Farben haben mich immer fasziniert, vor allem grelle und plakative“, erzählt Professor Kinzl, inzwischen mit mehreren Ausstellungen erfolgreich, in Ulm unter anderem und im Schloss auf der Insel Mainau. „Absolute Befreiung und Erholung“ empfinde er beim Malen, „schade nur, dass ich im Berufsleben nicht genügend Zeit dazu hatte“.
Auch da sieht Kinzl markante Parallelen zu seinem im Jahr 2002 verstorbenen akademischen Lehrer, bei dem er sich 1976 habilitiert hat, zum Abschluss, wie er sich noch bestens erinnert, „mit einer mündlichen Präsentation über operative Maßnahmen am Hüftgelenk beim damaligen Dekan Professor Karl Knörr, am Tag vor Weihnachten bei Glühwein und Gebäck“. Zuvor allerdings habe er eine ebenso harte wie umfassende und exzellente Ausbildung als Chirurg durchlaufen, bei den Professoren Burri, Herfarth und Vollmar übrigens, für ihn die Basis als gefragter Unfallchirurg. „Burri war ein Vollblut-Chirurg und ein faszinierender Mensch“, schildert Kinzl seinen Mentor, „wir haben uns nicht vorstellen können, dass er von heute auf morgen aufhören könnte“. Und dann sei er doch plötzlich gegangen, „mit 57 Jahren und einer Übergabe seiner Klinik nach der ersten Visite“.
Nicht ohne lange vorher seinem damaligen Assistenten („ich war nur einer von vier“) wichtige Sprossen für die Karriereleiter zu organisieren. Einen Forschungsaufenthalt in einem bekannten Institut in Davos etwa, immerhin für ein Jahr und gekrönt von einem respektablen Forschungspreis, und später die erste Chefarzt-Stelle in Kassel, den Aufbau einer Unfallchirurgie inklusive, „fünf Jahre harte Knochenarbeit, dann etwas moderater“. Im sechsten Jahr dann der Anruf Burris aus Ulm: „Ich höre auf und du bewirbst dich.“ Gesagt, getan. „Die Aufgabe in Ulm hat mich gereizt und ich hatte ja nichts zu verlieren.“ Ein entscheidender Punkt sei auch „die forscherische Neugier“ gewesen.
„Vorrang hatte aber zunächst der Aufbau einer guten Mannschaft“, so Kinzl, das sei gelungen „und auf einige Fakten bin ich auch stolz“. 60 000 versorgte Patienten in 19 Jahren zum Beispiel, rund 8000 eigene Operationen und eine bemerkenswerte Personalentwicklung: 23 ehemalige Oberärzte seien heute Chefärzte in ganz Deutschland, 19 davon habilitiert, „eine gute Quote“, sagt Professor Kinzl. Eine besondere Anerkennung für das gesamte Team: regelmäßige Top-Platzierungen unter den zehn besten Unfallchirurgischen Kliniken Deutschlands in der akribisch recherchierten FOCUS-Ärzteliste. Nicht zu vergessen mehr als 100 von ihm betreute Doktorarbeiten, ein wichtiger Faktor bei der internen Nachwuchspflege. Für eine langfristig angelegte und sehr erfolgreiche Forschungsentwicklung auf mehreren Feldern ebenfalls. Unabhängig davon, ob in klinischen Gruppen betrieben oder ausgegliedert im Institut für Unfallchirurgische Forschung, vor 20 Jahren eingerichtet auf Initiative Professor Burris. Polytraumaforschung, Knochenbruchheilung und Posttraumatische Osteitis, infektiöse Entzündungen des Knochenmarks also, nennt der Wissenschaftler als Schwerpunkte, inzwischen auf verschiedenen Schienen weitergeführt, auch von seinem Nachfolger.
„Ohne Bruch“, freut sich Kinzl. Gleichwohl wird spürbar: Die ganz große berufliche Erfüllung fand er stets weniger im Labor denn im OP. „Ich bin eben ein begeisterter Chirurg“, sagt der Sohn eines Landarztes, und er habe ein Helfer-Syndrom. „Ein Blaulicht im Hof und ein Martinshorn, das hat mich stets elektrisiert.“ Das Ziel zu helfen sei geblieben, versichert er, „aber die Belastung ist jetzt weg“. Verschmerzt, da durch die Entwicklung überholt, auch die einzige schwere Enttäuschung seiner bemerkenswerten Karriere: „Nach Ulm zurückgekommen bin ich 1990 in der Annahme, ein Jahr später sei Baubeginn für die neue Chirurgie.“ Zugleich aber macht er deutlich: „Die OP-Bereiche sind nach wie vor in Ordnung, nur die Zimmer sind marode.“ Hochmodern überdies der noch von ihm initiierte Schockraum, „meine letzte Tat als Chefarzt“.
Nicht aber seinen eingangs erwähnten Plänen zufolge als Chirurg selbst, der er von jungen Jahren an werden wollte: „Ein Freund meines Vaters war Chirurg und Chefarzt, das war wohl der Auslöser.“ Neben einer als Beobachter erlebten Blinddarm-Operation. Diese Voraussetzungen allein hätten indes nicht gereicht, räumt Professor Kinzl ein, nennt spontan auch die Eigenschaften, die ein Chirurg mitbringen sollte: „Eine technisch perfekte Hand, die dem Hirn folgt, wobei über allem ein entscheidungsfreudiges Herz agiert.“