Harmloses Computerspielen oder schon Gesundheitsrisiko?
Erster psychologischer Test zur "Gaming Disorder" entwickelt
Seit einigen Wochen ist exzessives Computerspielen eine von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) anerkannte psychische Erkrankung. Die Aufnahme der „Gaming Disorder“ in den Krankheitskatalog der WHO und die damit einhergehende Definition bieten neue Möglichkeiten, gesundheitliche und psychosoziale Auswirkungen des exzessiven Computerspielens zu erforschen. Daher haben Forschende um Professor Christian Montag den weltweit ersten psychologischen Test zur Untersuchung der Computerspielsucht nach WHO-Kriterien entwickelt.
Wer sein Gaming-Verhalten nicht mehr kontrollieren kann, dem Computerspiel Priorität gegenüber anderen Aktivitäten einräumt und an diesem Verhalten trotz negativer Konsequenzen nichts ändert, könnte gemäß der neuen WHO-Definition unter Computerspielsucht leiden. Bereits vor mehreren Monaten hat die Weltgesundheitsorganisation die so genannte Gaming Disorder in die 11. Auflage ihres Krankheitskatalogs „International Classification of Diseases“ (ICD-11) aufgenommen – nun wurde der Katalog auch offiziell erweitert. Für Forschende um den Psychologieprofessor Christian Montag Grund genug, einen neuen Test zur „Gaming Disorder“ zu entwickeln, der den WHO-Kriterien entspricht. Der jetzt vorgestellte Online-Fragebogen erfasst Gaming-Aktivitäten der vergangenen zwölf Monate bis zum Tag der Erhebung auf einer Skala von eins bis fünf (1 steht für die Selbsteinschätzung „nie“ und 5 bedeutet „sehr oft“). Ziel des psychometrischen Instruments ist weniger die Diagnose als die Erforschung von Auswirkungen des exzessiven Spielens. Studienteilnehmerinnen und -teilnehmer erfahren lediglich, ob ihre Ergebnisse im Vergleich mit allen anderen Probanden eine Tendenz zur „Gaming Disorder aufweisen. Laut WHO kann jedoch erst von einer Computerspielsucht ausgegangen werden, wenn Betroffene dieses Verhaltensmuster über mindestens zwölf Monate zeigen und es zu schweren Beeinträchtigungen des Familienlebens, der Ausbildung oder etwa der Arbeitsleistung kommt.
"Exzessives Videospielen ist schon heute ein ernst zu nehmendes Gesundheitsrisiko in asiatischen Ländern und ein aufkommendes Problem in Europa"
Anhand einer Stichprobe aus mehr als 550 jungen Chinesen und Briten haben die Forschenden ihren neuen „Gaming Disorder Test“ bereits überprüft. „Exzessives Videospielen ist schon heute ein ernst zu nehmendes Gesundheitsrisiko in asiatischen Ländern und ein aufkommendes Problem in Europa". Um große, internationale Studien durchführen zu können, haben wir das neue Instrument kulturübergreifend konzipiert und in China sowie Großbritannien getestet“, erläutert Christian Montag, Heisenberg-Professor sowie Leiter der Abteilung für Molekulare Psychologie an der Universität Ulm.
Die Stichprobe umfasste 236 junge Chinesinnen und Chinesen, die an einer Universität in Beijing studierten, sowie 324 britische Studierende aus dem Großraum London und aus den East Midlands. Das Durchschnittsalter betrug 23 Jahre. Ausschlusskriterium für die Teilnahme an der Online-Befragung war die Angabe, in den letzten zwölf Monaten kein Videospiel gespielt zu haben. Nach Abschluss der Erhebung haben die Forschenden mit komplexen statistischen Verfahren überprüft, ob sich der Test zur Messung der Computerspielsucht eignet („Validität“), und ob es das Konstrukt zuverlässig misst („Reliabilität“).
Zudem konnten sie erste Rückschlüsse auf das Gaming-Verhalten der untersuchten chinesischen und britischen Studierenden ziehen. So unterschied sich das Vorkommen der Computerspielsucht nach WHO-Kriterien zwischen beiden nationalen Gruppen nicht signifikant. Im Mittel gaben die Studierenden an, 12 Stunden in der Woche zu spielen. Dabei verbringen sie fast die Hälfte dieser Zeit (46 %) am Wochenende alleine vor dem Computer oder sonstigen mobilen Endgeräten. Insgesamt 36 Teilnehmende (6,4 %) berichteten von großen Problemen im Alltag aufgrund ihres Spielverhaltens und könnten somit die Diagnosekriterien der WHO erfüllen.
Nach diesem Testlauf ziehen die Forschenden eine positive Bilanz: „Der Gaming Disorder Test scheint geeignet, um die Häufigkeit und, in Kombination mit anderen Fragebögen, auch Effekte der Computerspielsucht in großen, kulturübergreifenden Gruppen nach den vorgeschlagenen WHO-Kriterien festzustellen“, so Montag. Künftig müsse der neue Fragebogen noch an Patientenstichproben validiert werden. Aktuell plant die Forschergruppe die bislang größte Untersuchung zur Computerspielsucht mit möglichst Tausenden von Teilnehmern: Für alle Interessierten steht der Gaming Disorder Test ab sofort in deutscher und englischer Sprache online zur Verfügung. Weitere Probandinnen und Probanden wollen die Forschenden unter anderem über die „Electronic Sports League“ (ESL) rekrutieren, dem nach eigenen Angaben weltweit größten Esports-Anbieter mit engen Verbindungen zur „Gaming Community“.
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Vorstellung Prof. Christian Montag (uni ulm intern Februar 2015)
Ebenfalls an der Studie beteiligt waren Forschende der Medizinischen Fakultät der University of Tasmania (Australien), der Birkbeck University in London, der chinesischen Beijing University sowie der University of Electronic Science and Technology of China in Chengdu. Aus Deutschland wirkten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Universitäten Ulm und Köln maßgeblich mit. Dabei erhielt Christian Montag über seine Heisenberg-Professur Fördermittel der Deutschen Forschungsgesellschaft (DFG).
Links zum psychologischen Test zur "Gaming Disorder" (deutsch/englisch):
www.gaming-disorder.org
www.do-i-play-too-much-videogames.com
Bereits 2013 ist das verwandte Störungsbild „Internet Gaming Disorder“ zumindest als Arbeitsbegriff in den Anhang des Diagnoseverzeichnises („Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders“ – DSM-5) der amerikanischen psychiatrischen Gesellschaft aufgenommen worden. Aufgrund abweichender diagnostischer Kriterien lassen sich Ergebnisse von bisherigen psychologischen Tests zur „Internet Gaming Disorder“ jedoch nur bedingt auf die Computerspielsucht („Gaming Disorder“) gemäß der neuen WHO-Definition übertragen. Nachdem die Weltgesundheitsorganisation die „Gaming Disorder“ in ihren Krankheitskatalog aufgenommen hatte, haben Forschende um Professor Christian Montag deshalb einen neuen psychologischen Test erstellt, der sich an den WHO-Kriterien orientiert.
Bisher gibt es zudem keine einheitliche Übersetzung der „Gaming Disorder“ ins Deutsche: Oft werden anschauliche Begriffe wie „Computerspielsucht“ oder „Videospielsucht“ verwendet. Dazu ist anzumerken, dass die WHO von der Bezeichnung „Sucht“ absieht. Vielmehr beschreibt der im Englischen verwendete Begriff „Gaming Disorder“ eine Störung, die durch exzessives Computerspielen gekennzeichnet ist. Es bleibt abzuwarten, welcher Begriff sich im Deutschen durchsetzen wird.
Literaturhinweis:
Pontes HM, Schivinski B, Sindermann C, Li M, Becker B, Zhou M, Montag Ch: Measurement and conceptualization of Gaming Disorder according to the World Health Organization framework: The development of the Gaming Disorder Test. International Journal of Mental Health and Addiction. DOI: https://doi. org/10.1007/s11469-019-00088-z
Text: Annika Bingmann
Fotos: Elvira Eberhardt