Viel mehr als Radeln und vegane Ernährung
Nachhaltigkeit im Spannungsfeld zwischen Entwicklung und Umweltschutz
Gastbeitrag von Prof. F. J. Radermacher
Das Thema einer nachhaltigen Entwicklung hat für die moderne Gesellschaft eine zentrale Bedeutung. Dabei gibt es allerdings viele Verwirrungen um die Frage, was mit Nachhaltigkeit eigentlich gemeint ist. Viele Aktivisten in Ländern wie Deutschland verbinden Fahrrad fahren, vegane Ernährung oder bessere Arbeitszeitregelungen mit dem Nachhaltigkeitsbegriff, andere wollen das Fliegen verbieten. All das trifft das Thema nicht im Kern. Denn die Begriffsbildung geht im internationalen Kontext zurück auf die erste Weltumweltkonferenz 1972 in Stockholm, die damals scheiterte. Die dort adressierten Themen sind bis heute zentrale Herausforderungen der Staatengemeinschaft.
Es war die Zeit, in der der Club of Rome seinen legendären Bericht „Grenzen des Wachstums“ publiziert hat. Die erste Weltumweltkonferenz scheiterte, weil die damalige junge indische Ministerpräsidentin Indira Ghandi im Namen der sich entwickelnden Länder gegenüber den Industrieländern unmissverständlich klar machte, dass für die ökonomisch zurückliegenden Länder Entwicklung erste Priorität hat, nicht Umweltschutz. Nachholende Entwicklung war das Ziel und ein Wohlstand, wie die Industrieländer ihn vorlebten.
Indira Ghandi hat nachvollziehbar argumentiert, dass auch der Reichtum der Industrieländer auf wenig nachhaltige Weise entstanden ist. Es gilt noch heute: Wenn man den Entwicklungs- und Schwellenländern verbieten würde, ihr Wachstum in ähnlicher Weise zu gestalten, wie dies die Industrieländer vorexerziert haben, würde man die Umwelt und das Klimasystem schützen. Dies ginge jedoch zu Lasten der Perspektiven ärmerer Länder. Wer also global die Umwelt schützen will, wer global das Klimasystem stabilisieren will, der muss dieses auf jeden Fall mit einem Programm der nachholenden Entwicklung im Sinne einer aufholenden Wohlstandsentwicklung der ärmeren Länder koppeln. Dies muss gelingen, während gleichzeitig die Weltbevölkerung in atemberaubendem Tempo weiterwächst. Heute ist die Zahl der Menschen auf dem Globus mit 7,7 Milliarden Menschen fast doppelt so groß wie zur Zeit der ersten Weltumweltkonferenz in Stockholm, und für 2050 muss man von 10 Milliarden Menschen ausgehen.
Nachhaltigkeit bezeichnet also im Wesentlichen die Bewältigung des Spannungsfeldes zwischen nachholender Entwicklung einerseits und Umwelt- und Klimaschutz andererseits, und das im Kontext einer Welt, in der die Bevölkerung rapide wächst. Die entscheidende Veränderung in dem Diskurs seit etwa 2010 resultiert aus der Globalisierung und dem Aufstieg von bevölkerungsreichen Staaten, insbesondere Chinas. Mittlerweile emittiert China mehr CO2 als die USA, Europa und Japan zusammen.
Wenn man Nachhaltigkeit weltweit sieht, wenn man insbesondere neben den Umweltfragen auch die sozialen und die ökonomischen Fragen betrachtet, ist China eine große Erfolgsgeschichte. China hat viele hundert Millionen Menschen aus der Armut gebracht. Aber der ökologische Preis dafür ist hoch, der Preis für das Klima ist hoch und wir stehen insbesondere auch deshalb wieder vor der Frage, ob wir eine Chance haben, die Nachhaltigkeitsprobleme zu lösen.
Zum Klimathema gibt es den Paris-Vertrag, der großartige Ziele beschreibt, aber in den versprochenen Aktionen und Beiträgen eher bescheiden ist. Alle erwarten, dass ganz viel passiert, sind aber individuell nicht bereit, viel beizutragen. Man muss sich deshalb nicht wundern, dass wir in Bezug auf CO2-Reduktionen nicht weiterkommen. Es spricht sehr viel dafür, dass wir auf das 3°C- bis 4°C-Ziel zusteuern und nicht, wie eigentlich vereinbart, auf das 2°C- bzw. 1,5°C-Ziel.
Mit Fridays for Future hat sich jüngst in der Zeit vor Corona vor allem in Europa eine hohe Themenfokussierung eingestellt. Menschen wollen etwas tun, dabei ist allerdings der Fokus sehr stark auf das nationale Agieren ausgerichtet. Allerdings muss klar sein, dass man in Deutschland für eingesetztes Geld nur sehr wenig an CO2-Effekten erhält. Viele Menschen glauben, sie könnten die Welt „retten“, wenn sie ihren Lebensstil einschränken, also beispielsweise kein Fleisch essen, nicht mehr Auto fahren oder keinen Urlaub mehr im Ausland machen. Was sie nicht überlegen ist, dass sie damit möglicherweise armen Menschen auf dem Globus wichtige Einnahmequellen wegnehmen. Was sie auch nicht überlegen, ist folgender wichtiger Aspekt: Wenn sie ihren Lebensstil ändern, sparen sie möglicherweise dadurch sehr viel Geld, das nach wie vor in ihrem Besitz ist. Dieses sammelt sich dann beispielsweise als Vermögen an. Dieses Vermögen wirkt natürlich über das Finanzsystem dann in Projekten und im Lebensstil anderer Personen an anderer Stelle weiter.
Man hilft auf diese Weise der Umwelt nicht, sondern man verlagert nur das Problem und sorgt ansonsten höchstens für ein gutes Gewissen – dies ohne inhaltlich sattelfeste Begründung. Oder anders ausgedrückt, eines der großen Probleme ist immer die klimafreundliche Entsorgung von verfügbarem Geld. Eine solche Entsorgung kann zum Beispiel darin bestehen, dass man seine eigenen Klimagasemissionen über hochwertige Projekte kompensiert, also sein Geld dafür abgibt, dass anderswo auf der Welt neue Wälder entstehen, an denen man kein Eigentum erwirbt. Das sind die Wälder anderer Eigentümer, aber sie binden CO2 und verbessern die Wohlstandssituation für viele Menschen in Entwicklungs- und Schwellenländern. Das sind sinnvolle Projekte, sinnvolle Aktivitäten. Aber gerade dies, wird von anderer Seite argumentiert, sei „Freikauf, Ablasshandel, Greenwashing“. Wohlhabende Menschen können viel CO2 emittieren, wenn sie ihre CO2-Emissionen anderswo kompensieren. Das erzeugt bei anderen vermehrt Ärger.
Die nachhaltige Universität
In diesem Kontext stellt sich nun die Frage der Nachhaltigkeit auch aus der Sicht einer Universität. Dies ist ein Thema, das schon in der UN-Dekade „Bildung für nachhaltige Entwicklung 2005 – 2014“, in der ich im Deutschen Nationalkomittee der UNESCO für die Weltdekade mitgewirkt habe, breit diskutiert wurde. Ganz wichtig zu verstehen ist, dass ein entscheidender Beitrag der Universitäten nicht darin besteht, ein Umweltmanagementsystem einzuführen, Energie einzusparen, Grünstrom zu kaufen oder in der Mensa an einem Tag kein Fleisch anzubieten. Das sind alles Themen, mit denen man sich beschäftigen kann, die aber den Kern der Nachhaltigkeitsherausforderungen nicht betreffen. Und sie betreffen insbesondere nicht die entscheidende Rolle der Universitäten.
Hier hat die Universität Ulm mit ihrem Fächerspektrum in den Naturwissenschaften und in den Ingenieurwissenschaften einiges zu bieten. Denn zwei ganz große Schwerpunkte in der internationalen Debatte sind eng mit diesen Disziplinen verknüpft. Das sind einerseits die „Naturebased solutions“, bei denen es darum geht, was wir weltweit zum Beispiel mit Aufforstung und etwa Humusbildung dazu leisten können, CO2 wieder aus der Atmosphäre herauszuholen (sog. Negativemissionen) und gleichzeitig Entwicklung zu fördern. Das sind andererseits – neben den erneuerbaren Energien, die die Grundlage für grünen Strom bilden – zunehmend auch synthetische Kraftstoffe, etwa auf der Basis von grünem Wasserstoff und grünem Methanol. Hier spielen dann die Potenziale der Sonnenwüsten der Welt eine große Rolle.
Die Universität Ulm hat sich in den letzten Jahren thematisch stark in Richtung Nachhaltigkeit verbreitert, auch beispielsweise durch den Stiftungslehrstuhl in der Ökonomie. Die Universität hat auch mit den „Hochschultagen Ökosoziale Marktwirtschaft und nachhaltige Entwicklung“ in den studentischen Bereich hinein und darüber hinaus gewirkt. Ich hoffe, dass es der Universität Ulm gelingt, bei vielen jungen Menschen entsprechende Kompetenzen weiter auszubilden – für die Chance einer nachhaltigen Entwicklung im internationalen Maßstab ist das eine Schlüsselfrage.
Prof. Dr. Dr. Dr. h.c. Franz Josef Radermacher (Jahrgang 1950) leitet das Forschungsinstitut für anwendungsorientierte Wissensverarbeitung (FAW/n) in Ulm. Von 1987 bis 2018 hatte er zudem den Lehrstuhl für Datenbanken und Künstliche Intelligenz an der Universität Ulm inne. Radermacher gilt als Experte für die Themen Nachhaltigkeit und ökosoziale Marktwirtschaft: Seit 2002 ist er Mitglied der berühmten „Denkfabrik“ „Club of Rome“. Weiterhin amtiert der Mathematiker und Wirtschaftswissenschaftler als Vizepräsident des ökosozialen Forums Europa, und er hat die Initiative globaler Marshallplan mitbegründet. Neben zahlreichen weiteren Engagements ist Professor Radermacher ein gefragter Redner und Berater in Wissenschaft, Politik und Wirtschaft.
Ein Gastbeitrag von Prof. Dr. Dr. Dr. h.c. Franz Josef Radermacher
Fotos: Pixabay, Shutterstock/kooanan, Thomas Klink