Wenn Social Media zur Sucht wird
Empfehlungen für einen verantwortungsvollen Umgang
Depressionen, Angstzustände und Essstörungen: Die übermäßige Nutzung Sozialer Medien kann krank machen und das Wohlbefinden verschlechtern. Zum Schutz von Kindern und Jugendlichen hat ein internationales Forschungsteam unter der Koordination des Ulmer Psychologen Professor Christian Montag Empfehlungen zur Social Media-Nutzung und zum Smartphone-Gebrauch formuliert und den Stand der Forschung aufgearbeitet.
Junge Menschen verbringen viel Zeit mit dem Smartphone. In der Gruppe der 16- bis 29-Jährigen sind dies mehr als drei Stunden täglich, so das Ergebnis einer Umfrage des Digitalverbands Bitcom vom März 2024. Dass vor allem Jugendliche ihr Handy nur schwer aus der Hand legen können, liegt nicht selten an Social Media Apps wie YouTube, TikTok, Instagram oder Snapchat. Nicht nur besorgte Eltern fürchten, dass die Nutzung sogenannter »Sozialer Medien« bei manchen Heranwachsenden suchtähnliche Ausmaße annehmen könnte.
Auch in der Wissenschaft wird diskutiert, inwiefern ein übermäßiger und problematischer Gebrauch »Sozialer Medien« als Suchterkrankung zu betrachten ist. »Aufgrund der Ähnlichkeit der Symptomatik mit der Computerspielsucht, die von der Weltgesundheitsbehörde als offizielle Diagnose anerkannt ist, wird aktuell in der Medienpsychologie, der Suchtforschung und Psychiatrie diskutiert, ob auch die problematische Nutzung von Sozialen Medien (PSMU) in den ICD-11 Katalog aufgenommen werden sollte«, erklärt Professor Christian Montag.
Der Leiter der Abteilung Molekulare Psychologie an der Universität Ulm hat deshalb gemeinsam mit Forschenden aus sechs europäischen Ländern und den USA in einem Konsenspapier in der Fachpublikation »Addictive Behaviors« den aktuellen Stand der Forschung zusammengeführt und daraus Empfehlungen abgeleitet.
Was genau auf neurologischer Ebene in den Gehirnen von Jugendlichen passiert, ist noch weitgehend ungeklärt
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So zeigen mehrere Studien, dass Kinder- und Jugendliche mit PSMU häufiger unter Depressionen und Angstzuständen leiden sowie öfter zu Essstörungen und Selbstverletzungen neigen. Hinzu kommen emotionale und soziale Störungen sowie eine problematische Körperwahrnehmung, die überdurchschnittlich häufig auftreten.
Ausschlaggebend für den Ulmer Wissenschaftler ist die Frage, wie stark die funktionellen Beeinträchtigungen für die jungen Nutzerinnen und Nutzer sind und wie groß die gesundheitlichen Probleme. Doch noch immer gibt es gravierende Forschungslücken. Was genau auf neurologischer Ebene in den Gehirnen von Jugendlichen passiert, wenn TikTok, Insta & Co. exzessiv genutzt werden, ist noch weitgehend ungeklärt. Es gibt Hinweise, dass die Ausschüttung von Dopamin und körpereigenen Opioiden eine Rolle spielen könnten und dadurch Veränderungen im Hirnstoffwechsel auftreten. Aus Bildgebungsuntersuchungen weiß man, dass vor allem Gehirnareale wie das Belohnungs- und Suchsystem betroffen sind, die motivierend und stimulierend wirken. Dass gerade Heranwachsende so anfällig für PSMU sind, könnte daran liegen, dass in dieser Entwicklungsphase der biologische Umbau des Gehirns noch bei weitem nicht abgeschlossen ist.
Das internationale Team von Forschenden aus den Sozialwissenschaften, der Psychologie und der Psychiatrie empfiehlt in dem Konsenspapier: »Social Media gehört nicht in die Hände von Kindern und jungen Heranwachsenden! Kein eigener Account vor dem 13. Lebensjahr!« Eltern sollten mit ihren Kindern detaillierte Regelungen für die Nutzung von Social Media Apps wie Youtube, TikTok, Snapchat, Instagram und Co. vereinbaren, und das bereits vor dem ersten Gebrauch. Außerdem müssten Väter und Mütter hier Vorbild sein und mit gutem Beispiel vorangehen. In dem »Addictive Behaviors«-Beitrag spricht sich das Forschungsteam außerdem für verbindliche Regelungen in der Schule aus.
Die Lehrkräfte sollten in Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen – am besten unter Beteiligung der Schülerinnen und Schüler – klar formulierte Richtlinien für die Nutzung von Smartphones in der schulischen Umgebung aufstellen. Idealerweise sollten Kinder und Jugendliche während des gesamten Schultages auf die Nutzung des Smartphones verzichten.
Manche Kinder und Jugendliche sind besonders anfällig
Warum können die einen das Smartphone nicht mehr aus der Hand legen und andere brauchen weder TikTok noch Youtube? »Nicht alle jungen Menschen sind gleichermaßen anfällig für eine problematische Social Media-Nutzung. Besonders hoch ist das Risiko bei jungen Heranwachsenden. Mädchen sind möglicherweise anfälliger als Jungen«, erläutert Professor Montag. Aber es gibt auch aktuelle Zahlen, die zeigen, dass sich die Geschlechterverhältnisse angleichen. Überdurchschnittlich stark betroffen sind Jugendliche, die emotional labil sind, die wenig Selbstbewusstsein und Selbstkontrolle haben und dafür psychosoziale Probleme. Doch situative und kontextuelle Faktoren spielen ebenso hinein.
In jedem Fall hilfreich sind klare und verbindliche Regeln in Elternhaus und Schule. Warum greifen junge Menschen eigentlich so häufig zum Smartphone? Und warum wird Social Media Content so gerne konsumiert? Hier spielen tiefergehende psychologische und soziale Mechanismen eine Rolle. »Möglicherweise werden negative Gefühle reguliert und nicht erfüllte Bedürfnisse kompensiert. Außerdem geht es um Gefühle wie Zugehörigkeit, Anerkennung und Bewunderung sowie nicht zuletzt um die Angst, etwas zu verpassen«, erklären die Forschenden.
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EU-Strafgelder für die Forschung nutzen
»Ein verantwortungsvoller Umgang mit diesem anspruchsvollen Thema muss evidenzbasiert sein. Wir brauchen Regeln, die auf wissenschaftlicher Erkenntnis basieren, und es ist zweifelsohne mehr Forschung nötig«, erklärt Professor Christian Montag. Der Ulmer Psychologe hat mit Professor Benjamin Becker von der Universität Hongkong in einer Correspondence der Fachzeitschrift »Nature« einen Vorschlag öffentlich gemacht, wie sich unabhängige, interdisziplinäre Forschung zum Thema PSMU in größerem Umfang finanzieren ließe: mit Anteilen aus Strafgeldern von Konzernen, die gegen den »EU Digital Services Act« verstoßen. Die europäische Initiative zur rechtsverbindlichen Regulierung digitaler Dienste und Märkte ist nach Ansicht der Wissenschaftler ein wirkungsvoller Weg, um die Plattformanbieter in die Pflicht zu nehmen, insbesondere was die Verbreitung von Inhalten angeht, die nicht altersangemessen sind und eine gesunde Kindesentwicklung gefährden.
Die verführerisch schöne und neue Social Media-Welt hat in der Tat ihre Schattenseiten. Doch wollen die Forscherinnen und Forscher die Sozialen Medien nicht pauschal verdammen. In der Pandemie hätten diese vielen jungen Menschen geholfen, Kontakt zu halten und sich nicht einsam zu fühlen. »Außerdem kann eine bewusste und aktive Nutzung von Instagram, TikTok, YouTube und Co. das Wohlbefinden auch fördern«, sagt Montag, der Mitte Mai 2024 die neuen Erkenntnisse auf diesem weiten Feld im Familienausschuss des Deutschen Bundestages vorgestellt hat.
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Prof. Dr. Christian Montag leitet an der Universität Ulm die Abteilung für Molekulare Psychologie. Der Wissenschaftler, der 2014 über eine Heisenberg-Professur an die Uni Ulm kam, war viele Jahre Gastprofessor an der University of Electronic Science and Technology of China in Chengdu und ist seit 2023 Gastprofessor an der Hamad Bin Khalifa University in Doha, Qatar. Der Psychologe forscht zu Themen rund um den Homo Digitalis. Sein Forschungsinteresse gilt der Psychoinformatik, insbesondere dem Einfluss von Mobiltelefonen und Internet auf die Emotionalität, Persönlichkeit und psychische Gesundheit. Darüber hinaus befasst er sich mit Fragen der Neuroökonomie.
Publikationshinweis:
- Montag et al.: Problematic social media use in childhood and adolescence; in: Addictive Behaviors, Volume 153, June 2024, doi.org/10.1016/j.addbeh.2024.107980
- Montag et al.: Safeguarding young users on social media through academic oversight, in: Nature Reviews Psychology, 18 April 2024, doi.org/10.1038/s44159-024-00311-2
Text: Andrea Weber-Tuckermann
Fotos: Kite_rin/Adobe Stock, 123RF/peopleimages12, 123RF/halfpoint, Elvira Eberhardt
Illustrationen: 123RF/1emonkey