Den Kopf befreien vom Zwang zu essen
Erfolgreiche Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit Adipositas
Gemobbt, stigmatisiert und ausgegrenzt: Junge Menschen, die stark übergewichtig sind, leiden nicht nur an den körperlichen Einschränkungen, sondern auch unter den Reaktionen ihres Umfelds. Anstatt auf Verständnis stoßen sie auf Zurückweisung, statt wissenschaftlich fundierter Hilfe bekommen sie ungebetene Ratschläge. Die Ulmer Universitätsklinik für Kinder- und Jugendmedizin liefert seit Jahren wichtige wissenschaftliche Beiträge zum Verständnis der Gewichtsregulation.
»Iss doch mal weniger und beweg dich mehr!«, diesen Satz bekommen Kinder und Jugendliche mit Adipositas sehr oft zu hören, auch von ärztlicher Seite. Professor Martin Wabitsch findet das unfair und letztlich auch unethisch. Der Kinder- und Jugendarzt leitet die Sektion für Pädiatrische Endokrinologie und Diabetologie. Denn Fettleibigkeit, wie diese Krankheit früher genannt wurde, ist eine chronische endokrine Erkrankung, die häufig eine genetische Komponente hat. Unstillbarer Heißhunger, fehlendes Sättigungsgefühl und übermäßige Nahrungsaufnahme (Hyperphagie) sind das Resultat einer hormonellen Regulationsstörung der Energiehomöostase, also des Gleichgewichts zwischen Kalorienzufuhr und Energieverbrauch.
Eine Schlüsselrolle spielt dabei das Leptin. Dieses geläufig als Sättigungshormon bezeichnete Protein wird hauptsächlich in Fettzellen gebildet. Es wirkt im Gehirn und reguliert von dort aus Energiehaushalt, Fettspeicherung und Hungergefühl. »Das Gehirn entscheidet langfristig, wieviel wir essen müssen, und nicht der Magen«, so Wabitsch. Schon Mitte der 1990er Jahre wurde bekannt, dass ein selten auftretender, genetisch bedingter Leptinmangel eine frühmanifeste Adipositas bei Kindern hervorruft. Die Ulmer Kinderklinik ist heute ein Zentrum für genetische und extreme Adipositas, an dem auch Patientinnen und Patienten mit einem Leptinmangel betreut werden. Der Hormonmangel wird medikamentös durch die Gabe eines Leptin-Analogons ausgeglichen. Dies hilft den Betroffenen, im Laufe der Zeit annähernd ihr Normalgewicht zu erreichen.
»Für viele ist das ein völlig neues Lebensgefühl«
Ein bahnbrechender Behandlungserfolg aus der Ulmer Kinderklinik wurde im Sommer im international hochrenommierten New England Journal of Medicine (NEJM) veröffentlicht. Dabei ging es um einen 14-jährigen Jungen und um ein zweijähriges Mädchen. Die Symptomatik – massive Hyperphagie, fehlendes Sättigungsgefühl und schwere Adipositas – glich dem Leptinmangel-Syndrom. Doch im Blut zeigte sich ein vielfach erhöhter Spiegel dieses Hormons. Wie konnte das sein? Ein Team aus Kinder- und Jugendärzten und Grundlagenforschenden, darunter Professorin Barbara Möpps und Professor Peter Gierschik vom Institut für Pharmakologie, Toxikologie und Naturheilkunde, ging diesem Rätsel auf den Grund. Die Ulmer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler hatten die Vermutung, dass eine Variante des Leptin-Gens eine biologisch inaktive Form des Hormons hervorgebracht hat. Und tatsächlich: »Dank ausgefeilter Zellkultur-Experimente konnten wir nachweisen, dass die wirkungslosen Leptin-Varianten, die bei diesen jungen Patienten zu finden waren, zwar an den Rezeptor koppeln, diesen aber nicht ausreichend aktivieren können. Das >normale<, nicht-variante Leptin hingegen bindet an den Rezeptor und aktiviert ihn«, erläutert Pamela Fischer-Posovszky, Heisenberg-Professorin für Experimentelle Endokrinologie und Stoffwechselforschung an der Ulmer Kinderklinik.
Weil das fehlerhafte Protein den Rezeptor blockiert, konnte auch die herkömmliche Substitutionstherapie mit Leptin nicht anschlagen. Um das defekte Leptin zu verdrängen, galt es zunächst, den Spiegel des endogenen, biologisch inaktiven Hormons im Körper über eine negative Energiebilanz entscheidend abzusenken. Auf der Grundlage wissenschaftlicher Untersuchungen zur Reduktion des Leptinspiegels haben die Ärztinnen und Ärzte der Kinderklinik für die beiden Patienten ein Ernährungs- und Bewegungsprogramm entwickelt, das die Kalorienzufuhr reduziert und den Energieverbrauch über körperliche Bewegung erhöht. Mit großer Disziplin haben sich der Junge und das Mädchen an die Vorgaben gehalten, und so ist der Leptinspiegel tatsächlich gesunken. Nach diesem Vorlauf wurde dann begonnen, das Leptin-Analogon zu spritzen.
»Die Dosen waren anfänglich sehr hoch. Wir wussten zwar anhand der Berechnungen der Pharmakologen, in welcher Größenordnung wir mit dem Leptin einsteigen mussten, aber ausschlaggebend war natürlich, wie der Patient darauf reagierten würde«, so der Endokrinologe Martin Wabitsch. Die Leptin-Gabe wurde stufenweise erhöht. »Bei der 25-fachen Dosis sagte der Junge, er fühle keinen Hunger mehr«. Mit der Zeit konnte die Dosis schließlich wieder deutlich gesenkt werden. Nebenwirkungen gab es keine. Der Jugendliche nahm in einem Jahr 100 Kilo ab – die Fettmasse hat sich quasi halbiert – er ist jetzt nur noch leicht übergewichtig. Glücklicherweise konnte auch das Mädchen mit dem Leptin-Analogon erfolgreich therapiert werden.
Zwar gehen diese besonderen Fälle von Adipositas auf sehr seltene genetische Besonderheiten zurück, doch hilft das Verständnis solch endokriner Erkrankungen auch dabei, andere Formen der Adipositas, die in der Bevölkerung weitaus häufiger vertreten sind, besser zu verstehen. Immerhin haben zahlreiche klinische Studien, wie sie auch an der Kinderklinik durchgeführt wurden, gezeigt, dass auch Patientinnen und Patienten mit anderen Adipositas-Gen-Varianten bei Kindern und Jugendlichen sehr gut medikamentös behandelt werden können, darunter mit MC4-Rezeptor-Agonisten wie Setmelanotid oder GLP-1-Rezeptor-Agonisten wie Liraglutid.
Eine erfolgreiche Adipositas-Therapie hat jedenfalls nicht nur positive Folgen für den Körper, sondern auch für die Psyche. »Diese jungen Menschen haben plötzlich wieder Raum im Kopf für andere Gedanken und Zeit für Hobbys. Sie müssen nicht mehr ständig ans Essen denken, und auch in der Schule können sie sich besser konzentrieren. Für viele ist das ein völlig neues Lebensgefühl«, berichtet Martin Wabitsch.
Seit vielen Jahren werden an der Ulmer Klinik für Kinder- und Jugendmedizin hormonelle Erkrankungen behandelt, mit beeindruckenden Erfolgen. Die Forschung dazu ist interdisziplinär, klinikübergreifend und translational. »Wir haben für die Leptin-Studie die genetischen Varianten im Labor analysiert und konnten dadurch eine personalisierte Therapie anbieten– from bench to bedside! Solche Erfolge sind nur in einem interdisziplinären Team möglich«, betont die Ulmer Expertin für experimentelle Endokrinologie Pamela Fischer-Posovszky. Und diese Forschung kommt voll und ganz den jungen Patientinnen und Patienten in der Kinderklinik zugute.
Neuer DZKJ-Standort Ulm
Stoffwechselerkrankungen wie Adipositas sowie Erkrankungen des Immunsystems und der Psyche stehen im Mittelpunkt des neu-eingerichteten DZKJ-Standorts Ulm. Das Deutsche Zentrum für Kinder- und Jugendgesundheit ist ein standortübergreifendes Zentrum, das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung mit jährlich insgesamt 30 Millionen Euro gefördert wird. Das Gesundheitszentrum dient der Verzahnung von Grundlagenforschung und klinischer Präventions- und Versorgungsforschung in der Pädiatrie. Koordiniert wird der Aufbau des Ulmer Standorts von Prof. Klaus Michael Debatin, Ärztlicher Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin. Prof. Martin Wabitsch ist stellvertretender Koordinator. Zu den insgesamt sieben Standorten gehören Berlin, Hamburg, Göttingen, München, Leipzig/Dresden und Greifswald/Rostock und Ulm.
Publikationshinweis:
Rare Antagonistic Leptin Variants and Severe, Early-Onset Obesity. Jan-Bernd Funcke*, Barbara Moepps*, Julian Roos*, Julia von Schnurbein, Kenneth Verstraete, Elke Fröhlich-Reiterer, Katja Kohlsdorf, Adriana Nunziata, Stephanie Brandt, Alexandra Tsirigotaki, Ann Dansercoer, Elisabeth Suppan, Basma Haris, Klaus-Michael Debatin, Savvas N Savvides, I Sadaf Farooqi, Khalid Hussain, Peter Gierschik, Pamela Fischer-Posovszky #, Martin Wabitsch #. In: N Engl J Med. 2023 Jun 15; 388(24); doi: 10.1056/NEJMoa2204041. (* These first authors contributed equally.# These last authors contributed equally.)
»Starkes Übergewicht bei Kindern und Jugendlichen - Aktuelle Behandlungsmöglichkeiten«
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Text: Andrea Weber-Tuckermann
Abbildungen: 123RF/Iculig, UKU Kinderklinik
Fotos: Heiko Grandel, Micha Wolfson