»Universitäten müssen ihre Erkenntnisse in die Gesellschaft tragen«
Professor Michael Kühl erläutert, warum der Transfer von Wissen und Technologie so bedeutsam ist
Wie gelangen die Erkenntnisse, die Forschende an der Universität gewinnen, in die breite Öffentlichkeit, aber auch in Unternehmen? Welche Rolle spielen dabei die Sichtbarkeit der Uni Ulm und persönliches Engagement? Und wie profitiert von all dem die gesamte Region? Antworten auf diese Fragen hat Professor Michael Kühl. Unter der Federführung des Vizepräsidenten für Kooperationen hat die Uni Ulm eine Transferstrategie entwickelt.
Herr Professor Kühl, warum ist Transfer so wichtig für die Uni Ulm?
»Die Universität hat eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Wir betreiben erkenntnisgeleitete Forschung, wollen also neue Erkenntnisse generieren. Universitäten müssen diese Erkenntnisse aber auch in die Gesellschaft tragen. Neben Forschung und Lehre wird der Wissens- und Technologietransfer heute als dritte Aufgabe der Universitäten begriffen, als Third Mission. Darauf hat die Gesellschaft auch einen Anspruch, denn wir werden durch Steuergelder finanziert.«
Ob Klimawandel, Digitalisierung oder Künstliche Intelligenz: Transfer soll bei der Lösung der großen gesellschaftlichen Herausforderungen helfen. Wie kann das konkret gelingen?
»Die Erkenntnisse, die durch die Forschung an der Universität generiert werden, beeinflussen die gesellschaftliche Diskussion maßgeblich. Das kann aber nur gelingen, wenn die Universität als Institution auch Wissenstransfer leistet. Wir machen das zum Beispiel über die Frühjahrs- und Herbstakademie des ZAWiW, die Ulmer Denkanstöße des Humboldt-Zentrums und durch das Einbinden einzelner Personen in kommunale Gremien, wo wir direkt die Politik beraten; außerdem tragen wir Wissen in Schulen hinein. Dazu kommen natürlich wissenschaftliche Publikationen und die dazugehörige Medienarbeit. Durch Technologietransfer wiederum werden Erkenntnisse in Firmen eingebracht, beispielsweise durch das DASU, oder münden in neue Startups, die sich mit solchen Zukunftstechnologien beschäftigen, etwa NVision. Ausgründungen sind ein wichtiges Mittel im Transfer.«
Wie profitiert unsere Region davon?
»Mittelgroße Universitäten wie die Uni Ulm sind häufig auch gegründet worden, um regionale Strukturen mit zu entwickeln und zu prägen. Das Zusammenwirken von Universität, Hochschule, außeruniversitären Forschungseinrichtungen und der Stadt Ulm zeigt sich beispielhaft in den Science Parks. Dazu kommt, dass die Uni Ulm aufgrund ihrer Größe selbst eine maßgebliche Akteurin in der Region ist: als Arbeitgeberin und durch die große Anzahl der Absolventinnen und Absolventen. Hier findet ein Transfer über Köpfe statt.«
Wie kam es dazu, dass sich die Uni eine eigene Transferstrategie gegeben hat?
»Ein Prozess, der für die Universität und die Gesellschaft wichtig ist, muss strategisch vorbereitet werden. Das war für uns ein mehrstufiges Verfahren. Mit einem Leitbild haben wir in einem breiten Beteiligungsprozess abgesteckt, warum Transfer für uns als Universität wichtig ist und wo wir unsere Stärken und Potential sehen. Als Präsidium wollen wir zusätzlich in verschiedenen Bereichen strategische Impulse setzen.«
Welche Schwerpunkte sind das?
»Wichtige Themen sind die Neustrukturierung rund um den Bereich Ausgründung mit dem Entrepreneurs Campus, mit dem wir eine zukunftsfähige und nach außen sichtbare Einheit aufbauen wollen, und die akademische Weiterbildung über die School of Advanced Professional Studies. Hier möchten wir uns in Zukunft in einem internationalen Netzwerk von Weiterbildungsuniversitäten engagieren. Das ZAWiW wollen wir im Bereich Bürgerwissenschaften weiterentwickeln in dem Sinne, dass die Universität Wissenschaft mit den Bürgerinnen und Bürgern macht – citizen science. Wir wollen nicht nur interdisziplinär, sondern transdisziplinär, also mit der Gesellschaft arbeiten. Forschung und Wissenschaftskommunikation sollen sehr viel breiter aufgestellt sein, so dass die Bevölkerung Fragen generieren und diese mit der Wissenschaft lösen kann – oder durch das Sammeln von Daten zur Lösung großer Forschungsvorhaben beiträgt, so wie beim ›Bio Blitz‹ 2023, wo man die Artenvielfalt dokumentieren konnte.«
Worauf legt das Präsidium noch wert?
»Aus eigenem Interesse müssen wir die Zusammenarbeit der Universität mit den regionalen Schulen weiterentwickeln. Hier treffen wir unsere zukünftigen Studierenden. Da haben wir noch Potenzial und können noch deutlich mehr machen, um die Universität vom Berg in die Stadt zu holen. Diese Distanz muss überwunden werden.«
Stichwort Nähe zur Stadt: Welche Rolle spielt die Sichtbarkeit der Uni Ulm in der Öffentlichkeit?
»Wir müssen Wissenschaftskommunikation heute anders gestalten und Wissenschaft näher zu den Bürgerinnen und Bürgern bringen, in verschiedenen Formaten. Wir müssen spontaner, ansprechbarer und in der Stadt präsenter sein, um Hemmschwellen zu senken. Die Wissenschaft muss zu den Bürgerinnen und Bürgern kommen. Das ist auch wichtig, um unsere Arbeitsweise zu erklären.«
Sie und Ihre Frau, Professorin Susanne Kühl, gehen seit einigen Jahren selbst stark in die Öffentlichkeit. Das liegt nicht jedem...
»Wissenschaftskommunikation bedeutet natürlich immer, sichtbar zu werden – mal mehr, mal weniger. Die eine Person verbreitet wissenschaftliche Erkenntnisse gerne über soziale Medien, andere halten lieber Vorträge. Wichtig ist in allen Fällen, dass ein Dialog entstehen kann, dass Bürgerinnen und Bürger Fragen stellen können. Einfach nur Fakten zu präsen- tieren, ist heute zu wenig. Persönliche Begegnungsformate sind entscheidend, um Informationen zu transportieren und in die Diskussion zu gehen. Und auch ganz wichtig: Man muss zeigen, was sind Fakten, was sind Fake News.«
Wie sind Ihre eigenen Erfahrungen mit solchen Formaten?
»Es gibt einen Stadt-Land-Gradienten. In Ulm selbst gibt es viele Möglichkeiten, sich auf verschiedenen Veranstaltungen zu informieren. Unsere Erfahrung mit Vorträgen ist: Sobald man einige Kilometer außerhalb der Stadt ist, ist der Bedarf an Veranstaltungen, persönlichen Informations- und vor allem an Diskussionsmöglichkeiten sehr viel größer, weil das An- gebot vergleichsweise klein ist. Ein Mangel an persönlichen Austauschformaten führt dann dazu, dass sich die Diskussion in den virtuellen Raum verschiebt – und in die bekannten sozialen Blasen.«
Müssen sich alle Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler künftig mehr persönlich engagieren?
»Nein, das muss nicht jeder machen. Jede und jeder muss selbst schauen, ob, wie und wo man sich engagieren möchte. Dafür gibt es viele Möglichkeiten: in Schulen, im Senioren- studium, an der Kinderuni, in Vorträgen oder bei Podiums- diskussionen. Ich glaube, dass es gesamtgesellschaftlich sehr wichtig ist, dass die Universität hier aktiv ist, weil wir gerade in einer Situation sind, in der erkenntnisgeleitete Forschung we- niger durchdringt. Der Eindruck verfestigt sich, dass Entschei- dungen momentan häufig emotional getroffen werden und dass viele Diskussionen weniger rational als in der Vergangen- heit verlaufen. Eine Rolle der Universität ist, Vorbild für eine gute, rationale Diskussionskultur zu sein. Daher möchte ich an dieser Stelle auch allen Mitgliedern der Universität danken, die sich im Bereich Transfer persönlich engagieren.«
Wissenschaftskommunikation bedeutet natürlich immer, sichtbar zu werden – mal mehr, mal weniger
Ein Aspekt des Technologietransfers ist die Auftragsforschung, mit der es oft Berührungsängste gibt. »Auftragsforschung ist mittlerweile Teil des universitären Alltags. Ganz wichtig für die Universität ist jedoch, dass die akademische Freiheit zur erkenntnisgeleiteten Forschung dadurch nicht beschnitten werden darf. Auftragsforschung ist sehr fächerspezifisch und spielt z.B. in den Ingenieurwissenschaften oder in der Medizin eine relevante Rolle. Auch hier, etwa in klinischen Studien, hat die Gesellschaft aber einen Informationsanspruch. Es ist in ihrem Interesse, dass auch negative Studienergebnisse bekannt werden, weil sie direkt Einfluss auf die Gesundheitsvorsorge haben.«
In die Zukunft geblickt: Welche großen Themen kommen im Bereich Transfer auf die Uni Ulm zu?
»Ein wiederkehrendes Thema ist die Verwertung von Erkenntnissen über Patente und Ausgründungen. Das wird erheblich an Bedeutung gewinnen. Auch weil Startups die Innovationsmotoren für die Gesellschaft und die Wirtschaft sind. Große Bereiche der deutschen Wirtschaft und Industrie stehen vor einem Umbruch: die Automobilindustrie mit den Zulieferbetrieben, die Stahlindustrie, der Maschinenbau, die Energiewirtschaft. Sie sind auf Innovationen angewiesen – und wir sind gesellschaftlich darauf angewiesen, dass sich ein neuer Mittelstand entwickelt. Das Thema Nachhaltigkeit spielt hier auch eine große Rolle und die Universität sollte hier sichtbar und aktiv sein. Und: So, wie sich die Diskussionskultur aktuell in der Gesellschaft entwickelt, müssen die Universitäten ihre Rolle neu definieren, mindestens aber behaupten. Da müssen wir sehr viel aktiver werden, als wir das bisher gewesen sind. Wir müssen den rationalen Diskurs in den Vordergrund stellen.«
Interview: Christine Liebhardt
Fotos: Elvira Eberhardt