Trainingshospital für die Mediziner von morgen

Mit Schauspielern und Puppen den Ernstfall proben

In einem landesweit einmaligen Trainingshospital üben Ulmer Medizinstudierende für den Arztberuf. In täuschend echten Krankenzimmern, einem OP-Bereich oder in der realitätsnahen Hausarztpraxis könnte man fast vergessen, dass alle Kranken Schauspielpatienten oder speziell angefertigte Simulationspuppen sind. In dieser geschützten Umgebung sollen Studierende vor allem praktische und kommunikative Fähigkeiten trainieren, die so kein Lehrbuch vermitteln kann.

Heute hat Dr. Neumann leider keine guten Nachrichten für Frau Müller. Die 75-Jährige hatte sich mit Schmerzen im Oberbauch und Appetitlosigkeit in der Hausarztpraxis vorgestellt – bei der Magenspiegelung wurde nun ein Tumor entdeckt. Ruhig und empathisch überbringt der junge Arzt seiner Patientin die Diagnose, mit fester Stimme erklärt er der Seniorin die nächsten Schritte. Frau Müller kann die schlechten Neuigkeiten gelassen aufnehmen, denn sie ist Schauspielpatientin und ihr behandelnder Arzt studiert im siebten Semester Medizin. Die Hausarztpraxis befindet sich im neuen Trainingshospital "To Train U" (TTU), wo das Diagnosegespräch von Anfang an beobachtet wurde. Hinter dem Spiegel, im Regieraum, haben sich "Dr. Neumanns" Kommilitoninnen und Kommilitonen Notizen gemacht. Gemeinsam mit ihrer Dozentin analysieren sie nun die Aufzeichnung des Patientengesprächs: Was ist gut gelaufen? Und wo gibt es Verbesserungspotenzial?

Arzt und Patientin sitzen während eines Beratungsgesrpächs an einem Tisch
Beratung in der täuschend echten Hausarztpraxis des Trainingshospitals

Im neuen Trainingshospital, einem markanten Gebäude mit grüner Fassade auf dem Uni-Campus, bereiten sich Medizinstudierende auf den Arztberuf vor. In flexibel nutzbaren Simulationsräumen wie dem Schockraum, einem Operationssaal oder auf der Krankenstation trainieren sie insbesondere Handlungsabläufe und die Arzt-Patientenkommunikation. Denn diese praktischen Kompetenzen sind im Ernstfall ebenso wichtig wie medizinisches Wissen aus dem Fachbuch. Im Oktober letzten Jahres ist das landesweit erste Simulations-Krankenhaus dieser Größenordnung eingeweiht worden. Aber warum brauchen Medizinstudierende ein Trainingshospital, wenn Universitätsklinikum und Bundeswehrkrankenhaus gleich um die Ecke sind?

In Ulm kann man nicht nur gut forschen, sondern auch hervorragend lernen

"Auslöser war der Wunsch Ulmer Studierender nach mehr Praxis in der Medizinerausbildung. Außerdem sieht die kommende Approbationsordnung eine stärkere Verzahnung der ersten vorklinischen· Semester mit der Klinik vor", erklärt Studiendekan Professor Tobias Böckers. "In Ulm hatten wir bereits gute Erfahrungen mit Übungsszenarien und Schauspielpatienten gesammelt; wir wussten aber auch, dass unsere Seminarräume keine realistische Kulisse für Diagnosegespräche oder Untersuchungen abgeben. Deshalb war schnell klar: Mit Blick auf die Zukunft muss ein Neubau her."

Ein erster Meilenstein auf dem Weg zum Trainingshospital war das Theatrum Anatomicum: In diesem nachempfundenen OP-Bereich können Medizinstudierende seit 2008 das Operieren an Körperspenderinnen und -spendern üben. "Mit solchen Lehrformaten zeigen wir den Studierenden, dass Grundlagenwissen aus der Anatomie direkte Anwendung in der Chirurgie findet. Unser neues Trainingshospital geht noch viel weiter und überträgt dieses Konzept auf die gesamte Klinik", erklärt Studiendekan Böckers, der maßgeblich an der Entwicklung von To Train U beteiligt war.

Mehr als zehn Jahre nach den ersten Planungen ist nun der Lehrbetrieb angelaufen. Anders als in den etablierten Skills Labs, wo einzelne Fertigkeiten wie Blut abnehmen oder das Abhören von Herz und Lunge an Dummys trainiert werden, sind im neuen Trainingshospital komplexe Szenarien möglich – beispielsweise die Versorgung von lebensbedrohlich verletzten "Unfallopfern". Im täuschend echten Operationssaal oder auf der "Intensivstation" kommen so genannte High Fidelity-Puppen zum Einsatz, die Atmung, Puls und Herzgeräusche simulieren können. "Im TTU verbinden wir Praxisnähe mit Patientensicherheit: Unsere Studierenden sollen sich ohne Druck auf praktische Einsätze wie Famulaturen vorbereiten können", ergänzt Astrid Horneffer, Ärztliche Leiterin von To Train U.

Junger Mann schaut Mann beim Abhören einer Simulationspuppe zu
Auch das Abhören muss trainiert werden
Zwei Studierende am Krankenbett eines männlichen Schauspielpatienten bei der "Visite"
Studierende bei der "Visite": Im Krankenbett liegt ein Schauspielpatient
Notfallsanitäterin neben einem Patienten auf dem Sofa
Üben für den Notfall

"Zum Glück verzeiht die Simulationspuppe Fehler"

Die riskante Operation steht unmittelbar bevor, die Simulationspuppe wird in den OP-Bereich des Trainingshospitals geschoben. Katarina Acker und ihr Anästhesie-Team legen dem "jungen Mann" einen Zugang, er bekommt eine Blutdruckmanschette und wird an den EKG-Monitor angeschlossen. Jetzt kann die Einleitung der Narkose beginnen. Ist der Patient einmal im Tiefschlaf, muss allerdings noch der Beatmungsschlauch in die Luftröhre eingebracht werden, die so genannte Intubation. "Zum Glück verzeiht die Simulationspuppe Fehler. Die Koordination der Aufgaben im Team und der Umgang mit den Instrumenten sind anfangs ganz schön herausfordernd", sagt Katarina Acker, Medizinstudentin im elften Semester. Die 25-Jährige kennt die alte und die neue Simulationswelt an der Uni Ulm. Zu Beginn ihres Studiums hat sie grundlegende Fertigkeiten an Plastikarmen und Torsi im Skills Lab oder an einfachen Dummys geübt. "Bei Notfallübungen war unsere Fantasie gefragt: Ich habe immer versucht, einen Film in meinem Kopf ablaufen zu lassen. Im Gegensatz dazu fühle ich mich im TTU wie in einem richtigen Krankenhaus", erläutert die angehende Ärztin.

Drei junge Menschen bereiten eine Simulationspuppe auf die Narkose vor
Katarina Acker und ihr Team bereiten eine Simulationspuppe auf die Narkose vor

Bei Medizinstudierenden kommen aufwändige Simulationen wie die Lehrveranstaltung "Emergency Room" besonders gut an. Astrid Horneffer sind aber gerade die weniger spektakulären Formate wichtig, bei denen ärztliches Grundwissen an Kleingruppen vermittelt wird. "Das TTU bietet hervorragende Bedingungen für den Untersuchungskurs oder für Parcours-Prüfungen, genannt OSCE, die alle Studierenden ablegen müssen", so die Ärztliche Leiterin. In Zukunft soll weiterhin die interprofessionelle Zusammenarbeit mit Fachkräften aus der Pflege und aus anderen Gesundheitsberufen abgebildet werden. Ein hauseigenes Lehr-Labor und der größte Hörsaal der Universität mit immerhin 450 Plätzen runden das Raumangebot ab. Zudem hat das Medizinische Dekanat eine neue Heimat im Trainingshospital gefunden.

Seine Multifunktionalität durfte To Train U in den ersten Monaten bereits beweisen: Bei einer COVID-Impfaktion wurden mehrere hundert Menschen im Übungs-Krankenhaus immunisiert. Außerdem hat die Universität ihren Dies academicus im Hörsaal gefeiert. Kein Wunder also, dass man an der Medizinischen Fakultät mächtig stolz auf den Neubau ist: "Das Trainingshospital wertet die Universitätsmedizin massiv auf. Wir sind der einzige Standort im ganzen Land mit einem Ausbildungskrankenhaus dieser Dimension. Das auffällige, von Weitem sichtbare Gebäude zeigt: In Ulm kann man nicht nur gut forschen, sondern auch hervorragend lernen", resümiert Studiendekan Professor Böckers.

Blick von draußen auf das TTU Gebäude
Entwurf und Projektleitung: Vermögen und Bau Baden-Württemberg, Amt Ulm Ausführungsplanung und Bauleitung: Tiemann-Petri Koch, Planungsgesellschaft mbH Freie Architekten BDA

To Train U in Zahlen

Bauzeit: Juni 2018 bis September 2021
Gesamtkosten: 25 Millionen Euro – finanziert von der Medizinischen Fakultät und vom Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst (MWK)
Über 3000 Quadratmeter Nutzfläche, davon 1300 für die Lehre

Baustellenrundgang (2019)

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Medizinstudierende erwerben als Avatare ärztliche Kompetenzen

Voraussichtlich im Wintersemester 2022/23 öffnet eine virtuelle Version des Trainingshospitals seine Pforten: Derzeit werden Behandlungszimmer, Schockraum und Intensivstation in der digitalen Welt nachgebaut. Im vergangenen Semester ist bereits das notfallmedizinische Rettungswagen-Praktikum in die virtuelle Realität überführt worden – Auslöser war die anhaltende Corona-Pandemie. Letztlich ist das digitale Praktikum aber so gut angekommen, dass die VR-Variante auch in Zukunft ergänzend in der notfallmedizinischen Lehrveranstaltung eingesetzt werden soll.

Eine VR-Brille ist die Eintrittskarte zu den verschiedenen Übungsszenarien: In der neuen Trainingswelt behandeln Medizinstudierende als Avatare digitale Patientinnen und Patienten. Alle Szenarien sind von erfahrenen Ärztinnen und Ärzten des Universitätsklinikums gemeinsam mit Fachleuten für E-Learning konzipiert worden. Bei der digitalen Umsetzung kooperiert das Ulmer Kompetenzzentrum eEducation in der Medizin Baden-Württemberg mit TriCAT, einem Unternehmen aus der Wissenschaftsstadt.

"Die VR-Angebote ergänzen die Medizin-Ausbildung um eine weitere Dimension: Im virtuellen Raum können die angehenden Ärztinnen und Ärzte ihre praktischen Fertigkeiten stufenweise aufbauen und ohne Zeitdruck idealtypische Abläufe erproben. Durch dieses Training bewahren sie in realen Stresssituationen eher einen ruhigen Kopf", erklärt Projektleiter Robert Speidel vom Kompetenzzentrum eEducation der Medizinischen Fakultät. Zunächst werden Medizinstudierende im klinischen Abschnitt das digitale Angebot ausschließlich mit VR-Brillen im realen Trainingshospital nutzen. In Zukunft sollen sie ihre virtuellen Patientinnen und Patienten aber auch vom heimischen Schreibtisch oder Sofa aus behandeln können.

Zwei weibliche Studierende mit VR-Brille und Controller

Text: Annika Bingmann
Fotos: Heiko Grandel, Elvira Eberhardt
Video: Daniela Stang