Körperliche und psychische Gewalt, sexueller Missbrauch und Vernachlässigung: Kindesmisshandlung ist häufiger als viele Volkskrankheiten. Dabei dürfte die Dunkelziffer in ganz Europa während der coronabedingten Ausgangsbeschränkungen weiter gestiegen sein. Länderübergreifende Vergleiche sind bisher allerdings kaum möglich, denn europaweite Standards zur Erhebung von Misshandlungsfällen gibt es nicht. Zudem unterscheidet sich das Zusammenwirken von Jugend- und Gesundheitsämtern sowie der Justiz in den einzelnen Staaten massiv. Im jetzt gestarteten Projekt „Multi-Sectoral Responses to Child Abuse and Neglect in Europe: Incidence and Trends“ wollen Forschende um den Ulmer Juniorprofessor Dr. Andreas Jud Maßnahmen des Kinder- und Jugendschutzes europaweit vergleichbar machen. Ausgestattet mit über einer halben Million Euro für vier Jahre werden sie im Zuge des COST-Programms (European Cooperation in Science and Technology) ein bisher 34 europäische Länder umfassendes Expertennetzwerk aufbauen, das auch Forschungsprojekte initiiert.
Jedes Jahr werden in Europa Millionen Kinder Opfer von Misshandlung und Vernachlässigung. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) schätzt sogar, dass rund 850 Todesfälle jährlich im Zusammenhang mit Kindesmisshandlung stehen. Wie viele Minderjährige in den einzelnen Ländern betroffen sind und welche Hilfen sie vom Jugendamt oder anderen Institutionen erhalten, ist größtenteils unbekannt. „Vereinzelte nationale Erhebungen sind selten vergleichbar, denn meist liegt diesen Studien eine unterschiedliche Definition von Kindesmisshandlung zugrunde. Zudem tauschen die Institutionen eines Landes, die bei Misshandlungsfällen reagieren, ihre Daten selten untereinander aus“, erklärt Projektkoordinator Andreas Jud von der Ulmer Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie. In der Schweiz hat er eine von weltweit nur drei multisektoralen Studien koordiniert, in denen die institutionellen Kinderschutzmaßnahmen in verschiedenen Versorgungsbereichen und in allen Kantonen gegenübergestellt wurden. Anders als in vielen europäischen Ländern geht aus den schweizerischen Daten immerhin hervor, warum Kinder und Jugendliche Hilfen erhalten, aus ihren Familien genommen werden und inwiefern Krankheits- sowie Todesfälle misshandlungsassoziiert sind.
Einheitliche Definition und Datenerhebung
Als Leiter des neuen Projekts (COST Action 19106) will Andreas Jud mithilfe eines europaweiten Expertennetzwerks für eine bessere Vergleichbarkeit der Daten und Systeme sorgen. In welchem Land funktioniert die Zusammenarbeit der Behörden und Kinderschutzeinrichtungen in einem Misshandlungsfall bereits gut? Und welche Interventionen helfen den Betroffenen? Solche „Best Practice-Beispiele“ werden gesammelt und auf ihre Übertragbarkeit auf weitere Staaten geprüft.
Zudem sollen vorhandene Daten über Kindesmisshandlung und damit verbundene Todesfälle allen Forschenden im Netzwerk zur Verfügung gestellt werden.
In Arbeitsgruppen werden europäische Experten aus Gesundheitswesen, Justiz und Jugendhilfe zunächst eine einheitliche Definition von „Kindesmisshandlung“ und gemeinsame Standards der Datenerhebung entwickeln. In Zukunft sollen so die institutionellen Reaktionen auf Kindesmisshandlung und die Fallzahlen verschiedener europäischer Länder vergleichbar werden.
Neben medizinischen Fachkräften und Experten aus Psychologie, Sozialarbeit und Justiz sollen von Misshandlung Betroffene in den Arbeitsgruppen mitwirken. Im Laufe des Projekts werden Ergebnisse an den jeweiligen Gesetzgeber, Kinderschutzbeauftrage sowie Behörden herangetragen und allgemeinverständlich der Öffentlichkeit kommuniziert. Denn Kinder und Jugendliche, die Misshandlung oder Vernachlässigung erfahren, leiden oft ein Leben lang. Neben Posttraumatischen Belastungsstörungen und weiteren psychischen und körperlichen Problemen geben sie das Erlebte womöglich an die nächste Generation weiter. Darüber hinaus entsteht durch Behandlungskosten, eine Unterbringung außerhalb des Elternhauses und verminderte Produktivität auch volkswirtschaftlich ein immenser Schaden. Alleine in Deutschland werden die Folgekosten auf über 29 Millionen Euro jährlich geschätzt.
Ihr Ziel, die Erfassung und den Umgang mit Kindesmisshandlung in Europa zu vereinheitlichen, werden die Forschenden in naher Zukunft wohl nicht erreichen. Andreas Jud, der für die einmalige Juniorprofessur für Epidemiologie und Verlaufsforschung im Kinderschutz an die Ulmer Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie gewechselt ist, rechnet mit einem Zeithorizont von 10 bis 20 Jahren. Bis dahin will das Netzwerk vergleichbare Forschungsprojekte zum Kinderschutz anstoßen und so zur europaweiten Bekämpfung von Misshandlung beitragen.
Zum COST-Programm
COST (European Cooperation in Science and Technology) ist eine europäische, länderübergreifende Initiative für die wissenschaftliche und technologische Zusammenarbeit. Die Initiative ist selbstständig, wird aber aus Mitteln von Horizon 2020 finanziert.
COST fördert die Zusammenarbeit national geförderter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in länderübergreifenden Netzwerken – genannt COST-Actions. Diese Partner forschen zu selbst gewählten und oft interdisziplinären wissenschaftlichen Fragestellungen von allgemeinem Interesse. Für die vierjährige Förderdauer erstellen sie ein gemeinsames Arbeitsprogramm und bündeln so ihre Expertise. Die Netzwerke stehen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler von Universitäten und Forschungseinrichtungen sowie Mitgliedern aus der Industrie, dem öffentlichen oder privaten Sektor offen. Häufig münden COST-Actions in weiteren europäischen Forschungsprojekten.