Wenn der Schmerz keine Worte findet
Ulmer Wissenschaftler forschen an der automatisierten Schmerzerkennung

Ulm University

Schmerzwahrnehmung ist etwas sehr Subjektives. Wie stark und auf welche Art wir einen Schmerz erleben, wissen nur wir selbst. Um unser Schmerzerleben anderen gegenüber zum Ausdruck zu bringen, bedarf es der Sprache.  Doch was ist, wenn ein Patient nicht in der Lage ist, über seinen Schmerz zu reden? Ulmer Wissenschaftler setzen in diesem Fall auf Künstliche Intelligenz. Ihr Ziel: die automatisierte Schmerzerkennung.

 Gemeinsam mit Forschern der Universität Magdeburg arbeiten Wissenschaftler der Medizinischen Psychologie der Ulmer Universitätsklinik daran, mit technischen Mitteln das subjektive Schmerzerleben objektiv messbar zu machen. Unterstützt werden sie dabei von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG). "Manchmal gibt es sprachliche Verständigungsprobleme. Kinder beispielsweise können Schmerz oft nicht genau beschreiben. Patienten mit Demenz oder anderen kognitiven Einschränkungen haben ebenfalls Probleme, Auskunft zu geben über die Intensität und Qualität von Schmerzen", erläutert Professor Harald C. Traue die Ausgangslage. Der Wissenschaftler leitet die Sektion Medizinische Psychologie am Universitätsklinikum Ulm. Äußerst hilfreich wäre eine automatisierte Schmerzdiagnostik zudem direkt nach einer Operation, wenn der Patient aus der Narkose erwacht oder noch ganz ohne Bewusstsein ist.

Gemessen werden die psychobiologischen Reaktionen auf den Schmerzreiz

 "Bei der automatisierten Schmerzmessung werden maschinelle Erkennungsverfahren eingesetzt, um aus psychobiologischen Reaktionen auf Schmerzreize das subjektive Schmerzerleben zu bestimmen", erklärt Dr. Steffen Walter, Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Sektion für Medizinische Psychologie. Mit hoch auflösenden Sensoren wird dabei die körperliche Schmerzantwort gemessen. Dazu zählen die Reaktionen der Haut, der Muskulatur, der Atmung und des Kreislaufs genauso wie das schmerzreaktive mimische Verhalten. "Dadurch entsteht ein sehr großer Datenstrom, dessen Bedeutung für den Schmerz nur mit komplexer Biosignalanalyse und der Verarbeitung mit Methoden der Künstlichen Intelligenz bewältigt werden kann", so der Statistik-Experte Dr. Sascha Gruss.

 Hierfür wurde in der Medizinischen Psychologie des Universitätsklinikums Ulm eine experimentelle Schmerzstudie mit 96 freiwilligen männlichen und weiblichen Probanden unterschiedlichen Alters durchgeführt. Bei diesen Testpersonen wurde mit einer Thermode am rechten Unterarm ein Hitzeschmerz in vier Intensitäten erzeugt. Diese vier Schmerzstufen werden für jede untersuchte Person individuell bestimmt. Man misst dafür den Hitzereiz, der anfängt schmerzhaft zu sein (Schmerzschwellen) und den Hitzereiz, den der Proband gerade noch aushalten kann (Schmerztoleranz). Die Stufen dazwischen werden dann berechnet.

Biopotentiale geben Auskünft über das Schmerzempfinden 

Zur Erfassung der körperlichen Schmerzantwort sind diverse Biopotentiale gemessen und digitalisiert worden. Eingesetzt wurden dabei diagnostische Verfahren wie Elektrokardio- (EKG), Elektromyo-(EMG) und Elektroenzephalogramm (EEG), aber auch Messgeräte zur Bestimmung der elektrodermalen Aktivität (EDA). Gesichtsausdruck und mimisches Verhalten konnten mit Hilfe einer speziellen Videokamera (AVT Pike F145C Kamera) aufgezeichnet werden. Um das Bewegungsmuster der Probanden festzuhalten, haben die Wissenschaftler schließlich einen Kinect Sensor für die Aufnahme frontaler Tiefenbilder eingesetzt. 

 Mithilfe der Künstlichen Intelligenz - insbesondere des maschinellen Lernens - konnte nun aus den biologischen und mimischen Schmerzreaktionen auf das subjektive Schmerzerleben geschlossen werden. Am besten waren die automatischen Erkennungsalgorithmen, wenn das technische System auf die Erkennung individueller Reaktionen von einzelnen Probanden hin trainiert wurde. Bei starken Schmerzreizen wurden hier Genauigkeiten von 94 Prozent erreicht, bei schwachen Schmerzreizen waren es immerhin 59 Prozent. Wurde die automatische Schmerzerkennung unabhängig von bestimmten Personen durchgeführt, betrug die Genauigkeit bei starken Schmerzreizen immerhin noch zwischen 74 und 91 Prozent. Bei leichteren Schmerzen war die automatische Erfassung allerdings recht ungenau. "Die Ergebnisse sind also noch ziemlich heterogen, da verschiedene Schmerzintensitäten unterschiedlich genau erkannt werden", so die Schmerzforscher. Doch eindeutige Ergebnisse fanden die Forscher im Hinblick auf die Aussagekraft einzelner Indikatoren. "Am aufschlussreichsten im Hinblick auf die Schmerzintensität waren das Gesichts-EMG, der elektrische Hautwiderstand, der Abstand zwischen Augenbraue und Mundwinkel und die Faltenbildung an der Nasenwurzel", sind sich die Forscher aus Ulm und Magdeburg einig.

Eine robuste und brauchbare Methodik zur automatisierten Schmerzerkennung 

 Unterstützt wurden die Wissenschaftler der Sektion für Medizinische Psychologie von Ulmer Kollegen aus der Neuroinformatik sowie von Wissenschaftlern der Arbeitsgruppe Neuro-Informationstechnik der Universität Magdeburg und des Biomedical Engineering Laboratory (BioLab) der brasilianischen Universität Uberlandia. Gemeinsam gelang es so den Forschern, eine robuste und brauchbare Methodik zur automatisierten Erkennung von stärkeren Schmerzen zu entwickeln, mit der die Schmerzdiagnostik insgesamt verbessert werden konnte. Doch auch für die Zukunft bleiben noch viele Herausforderungen. So gilt es, die eingesetzten Algorithmen der Künstlichen Intelligenz im Hinblick auf die Laborbedingungen zu optimieren und für medizinische  Anwendungen echtzeitfähig zu machen.

 Veröffentlicht und vorgestellt wurde dieses Verfahren bereits in Fachzeitschriften wie in PLoS ONE sowie vor kurzem beim "Pain Face Day 2017" in Erlangen, einer internationalen Tagung des Fraunhofer-Instituts für Integrierte Schaltungen zur Automatischen Schmerzdiagnostik. Gefördert hat das Projekt die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG).

Infos im Netz: http://www.uni-ulm.de/~hhoffman/emotions/index.html

Text und Medienkontakt: Andrea Weber-Tuckermann 

 

 Veröffentlichungshinweis:

Werner, Philipp,  Ayoub Al-Hamadi, Kerstin Limbrecht-Ecklundt, Steffen Walter, Sascha Gruss & Harald C. Traue (2016) Automatic Pain Assessment with Facial Activity Descriptors. IEEE Transactions on Affective Computing 01/2016; DOI:10.1109/TAFFC.2016.2537327

 Gruss, Sascha, Roi Treister, Philipp Werner, Harald C. Traue, Stephen Crawcour, Adriano Andrade & Steffen Walter (2015) Pain intensity recognition rates via biopotential feature patterns with support vector machines. PLoS ONE Oct 15; 10(10):e0140330. doi: 10.1371O

 

 

 

 

Probandin ohne Schmerz
Die Probandin ist ganz entspannt. Noch ist kein Schmerz zu spüren (Foto: Sektion Medizinische Psychologie)
Probandin mit Schmerz
Die Probandin ist einem schmerzhaften Hitzereiz ausgesetzt. Auch die Mimik verändert sich (Foto: Sektion Medizinische Psychologie)
Experimentalsteuerung
Die Ulmer Wissenschaftler bei der experimentellen Steuerung; links im Bild Dr. Steffen Walter und rechts davon Prof. Dr. Harald Traue (Foto: Sektion Medizinische Psychologie)
Grafik zum experimentellen Design
Abbildung zum experimentelles Design, A: Hitzestimulierung am rechten Unterarm mit Thermode, B: Laboraufbau (3 Pike Kameras, frontal und 45° rechts und links versetzt), Kinect Sensor, Messverstärker zur Messung von Biopotentialen, C: Hitzestimulation-Signal (Schmerzstimuli in den 4 verwendeten Intensitäten mit jeweils darauf folgender Baseline); Abbildung: Sektion Medizinsiche Psychologie