Das Wissenschaftsjahr 2019 steht im Zeichen der Künstlichen Intelligenz. Ein in Ulm entwickelter neuartiger KI-Kunst-Algorithmus gehört zu den Vorzeige-Projekten, die vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) dafür ausgewählt wurden. Der VanDeGraphGenerator+ (VdGG+), entwickelt vom Ulmer Informatiker Professor Thom Frühwirth, wurde dafür mit Hunderten von Steinmetzzeichen gefüttert und nutzt dieses kulturelle Erbe des Mittelalters, um moderne digitale Kunst zu schaffen.
Seit Jahrtausenden haben Handwerker mit Steinmetzzeichen das Werk ihrer Hände kenntlich gemacht. In Europa findet man solche steinernen Signaturen zumeist in mittelalterlichen Kirchen, Kathedralen und Klöstern. "Für die Markierungen wurden meistens Muster aus geraden Linien und Bögen verwendet, die mit Hilfe von Zirkel und Lineal konstruiert werden können", so Professor Thom Frühwirth vom Institut für Softwaretechnik und Programmiersprachen. Der Informatiker, der sich professionell vor allem mit Fragen der Computerlogik und der Regelbasierten Programmierung befasst, interessiert sich auch für Kunst und Geschichte. In seinem neuartigen KI-Kunst-Algorithmus hat der Wissenschaftler nun Beides zusammengeführt. Dies war wohl ein Grund dafür, dass Frühwirths VanDeGraphGenerator+ in die BMBF-Kampagne zum diesjährigen Wissenschaftsjahr über Künstliche Intelligenz aufgenommen wurde.
Der VdGG+Algorithmus hat aus Hunderten mittelalterlicher Steinmetzzeichen gelernt, nach welchen Gesetzmäßigkeiten und Regeln diese Künstlerzeichen damals gestaltet wurden. Auf der Grundlage dieser Kompositionsprinzipien, die einerseits der besonderen Beschaffenheit des Materials geschuldet sind aber auch bestimmten ästhetischen Grundregeln folgen, kann der Computer neue Strukturen generieren. Für die Neuschöpfungen lernt die Computer-Software Strichlängen, Winkel, Größenverhältnisse und Anordnungen. Die neu kreierten Steinmetzzeichen werden dann mit Hilfe der Software nach bestimmten künstlerischen Gestaltungsprinzipien zu farbigen Bilddesigns umgewandelt. Linien werden verdickt, Flächen mit Farbe gefüllt und bestimmte Strukturen vom Computer aufgegriffen und rechnerisch fortgeführt.
Das Ergebnis ist eine Mischung aus Zufall und Notwendigkeit
„Das Verfahren basiert also auf einer Mischung aus Zufall und Notwendigkeit. Die Ergebnisse, die damit zustande kamen, waren für mich umso überraschender. Erinnern doch viele der digitalen Neuschöpfungen an zeitgenössische abstrakte Kunst", sagt Frühwirth. So erkennt der Wissenschaftler eine gewisse Ähnlichkeit mit den Werken von Piet Mondrian oder Frank Stella. Auf den ersten Blick drängt sich eine gewisse Nähe zu künstlerischen Traditionen der Moderne wie Op Art, De Stijl oder dem Bauhaus auf. Andere Abbildungen wiederum haben etwas Origami-haftes. „Wie ein neugieriges Kind zerlegt unser Programm die Vorlagen und sucht nach strukturellen Gesetzmäßigkeiten, um dann nach diesen Regeln neue Kunstwerke zu schaffen", erklärt der Ulmer Informatiker das Grundprinzip. Für die Realisierung dieses digitalen Spiels greift Frühwirth auf Methoden der Künstlichen Intelligenz und der Computerlogik zurück. „Ich habe VdGG+ in meiner Freizeit entwickelt, weil ich die Idee sehr reizvoll fand, Kunst und Informatik zusammenzubringen. In unserer wissenschaftlichen Arbeit gibt es solche Berührungspunkte ja leider kaum. Und es hat mir gefallen, so etwas Abstraktes wie die Computerlogik, sinnlich erfahrbar zu machen", meint der gebürtige Österreicher.
Der Name VdGG+ ist eine Referenz auf Physik und Rock-Musik
Auch die Namensgebung für das Projekt war ein kreativer Akt, spielt sein Schöpfer mit der Bezeichnung VanDeGraphGenerator+ einerseits auf den amerikanischen Physiker Robert Van de Graaff (1901 bis 1967) und seinen Bandgenerator an, der mechanische in elektrische Energie umwandelt, also aus etwas Gegebenem etwas Neues machen kann. Andererseits huldigt der Rockmusik-Fan damit der britischen Progressive-Rockband, Van der Graaf Generator, die sich nach diesem physikalischen Gerät benannt hat. Und drittens steckt in der Bezeichnung ein „Graph Generator", also eine Maschinerie, die Abbildungen generiert.
Professor Thom Frühwirth kann sich übrigens gut vorstellen, sein Computerprogramm in Zukunft auf das kulturelle Erbe Japans oder die islamische Kunst zu übertragen. „Sehr reizvoll fände ich es, den Computer nach den Gestaltungsregeln der japanischen Blumensteckkunst Ikebana suchen zu lassen oder ihn dazu zu bringen, digitale Werke hervorzubringen, die wie die islamische Kunst geprägt ist von Muster, Symmetrie und Ornamentik", so der kunsthistorisch interessierte Informatiker. Auf jeden Fall zeigt das Projekt, dass das kreative Spiel eine erfrischende Quelle der Erkenntnis ist.
Text und Medienkontakt: Andrea Weber-Tuckermann