Jenseits der digitalen Demenz

Klinikdirektor Prof. Spitzer über 20 Jahre Psychiatrie

Professor Manfred Spitzer ist der wohl bekannteste Forscher der Universität Ulm. Bestseller wie „Digitale Demenz“ oder „Einsamkeit – die unerkannte Krankheit“ haben ihm zahlreiche Fernsehauftritte eingebracht. Hauptberuflich leitet Spitzer jedoch die kleine, aber nicht minder erfolgreiche, Universitätsklinik für Psychiatrie III am Safranberg. Anlässlich des 20. Klinikjubiläums erinnert sich Spitzer an die Anfangszeit, einstige Kolibri-Diagnosen und sein Patent in der Automobilindustrie.

  • geboren 1958 im Odenwald
  • Studium Medizin, Psychologie und Philosophie an der Universität Freiburg
  • Oberarzt an der Psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg
  • Gast- und Forschungsprofessor an der renommierten Harvard University und an der University of Oregon
  • Forschungsschwerpunkte: Grenzbereich der kognitiven Neurowissenschaften und der Psychiatrie
  • Seit 1997 Lehrstuhlinhaber für Psychiatrie an der Uni Ulm
  • Ab 1998 Aufbau der Universitätsklinik für Psychiatrie mit den Schwerpunkten Akut- und Notfallpsychiatrie, Allgemeinpsychiatrie sowie Klinische Psychologie und Neurostimulationsverfahren. Aktuell 69 Betten, dazu 23 Plätze in der Tagesklinik sowie drei Ambulanzen
  • 2004 Gründung des Transferzentrum Neurowissenschaften (ZNL), das Neuro- und Bildungswissenschaften verbindet
  • Erfolgreicher Buchautor von Bestsellern wie „Digitale Demenz“, „Cyberkrank“ sowie das jüngste Werk „Einsamkeit – die unerkannte Krankheit“
  • Gast in Talkshows und Moderator der Reihe „Geist und Gehirn“ (ARD Alpha)
  • Vater von 6 Kindern

Herr Professor Spitzer, 1998 übernahmen Sie als jüngster Psychiatrie-Professor Deutschlands die Leitung der neu gegründeten psychiatrischen Uniklinik in Ulm. Warum haben Sie sich überhaupt nach dem Studium der Medizin, Philosophie und Psychologie entschieden, Psychiater zu werden?

Prof. Spitzer: „Gerade weil ich diese drei Fächer studiert habe, war der Fall schnell klar. Ich kann alle drei gut in der Psychiatrie gebrauchen. Hier in der Klinik arbeiten ja auch viele Psychologen – da hilft es, wenn man selber einer ist. Zudem ist es vorteilhaft, mit philosophischem Verstand an die Psychiatrie ranzugehen: In meiner Doktorarbeit in Philosophie habe ich mich mit dem Begriff Psychopathologie, also krankhaften Veränderungen der Seele, befasst, und auch meine Habilitationsschrift über ,Wahn‘ ist eigentlich eine philosophische Arbeit. Ich hatte das große Glück, 1989, zur Geburtsstunde der kognitiven Neurowissenschaften, in Harvard zu forschen. Die kognitiven Neurowissenschaften bringen meine drei Fächer zusammen und Ich wusste sofort: Das ist mein Métier – und wohl auch der Grundstein für meinen Lehrstuhl in Ulm.“

 

Nach einer Zeit als Oberarzt an der etablierten Universitätsklinik Heidelberg sind Sie also nach Ulm gekommen, wo Sie eine Klinik aufbauen sollten. Was hat Sie an dieser Aufgabe gereizt?

„Wenn Sie mit 37 Jahren einen Ruf bekommen, überlegen Sie nicht lange. Ich hatte aber auch den großen Vorteil, in Ulm bei Null anfangen zu können. Klar, man baut alles neu auf, muss aber auch nicht auskehren oder alte Zöpfe abschneiden. Ich wusste ja auch nicht, wie man eine Klinik aufbaut. Also habe ich mir überlegt, wie eine moderne Psychiatrie aussehen könnte, und einfach angefangen. Bereits nach zwei Wochen waren wir voll belegt und haben gemerkt: Die neue Klinik wird einfach gebraucht.“

Was war denn die größte Herausforderung in den Anfangsjahren?

„Man muss wissen, dass wir mit 30 Betten die mit Abstand kleinste Psychiatrie in Deutschland waren. Eine durchschnittliche Klinik hatte damals 125 bis 150 Betten. Klinische Studien waren in der Anfangszeit bei so wenigen Patienten, die ja alle unterschiedliche Erkrankungen hatten, schwierig. Wir mussten also kreativ sein und Studien durchführen, die auch mit sehr kleinen Kollektiven möglich waren. Ein schöner Zufall war ein Projekt mit dem Daimler-Forschungszentrum am Eselsberg: Die Ingenieure wollten gemeinsam mit uns neurowissenschaftliche Erkenntnisse über das Autofahren gewinnen und dafür einen Fahrsimulator im MRT-Scanner nutzen. Allerdings war ihr Simulator groß wie ein Kühlschrank – und Ingenieure, Physiker sowie Ärzte haben lange erfolglos daran getüftelt, den Fahrsimulator im Scanner nutzbar zu machen. Da hatte ich die rettende Idee und kaufte bei Media Markt das Computerspiel Autobahn-Raser für 50 Euro, das problemlos in der MRT-Röhre lief. Dieses Projekt brachte mir als wohl einzigem Psychiater ein Patent mit der Automobilindustrie ein und erlaubte es der Klinik, als erste Psychiatrie im Land, 2004 einen MRT-Scanner zu kaufen – und für zahlreiche weitere Studien zu nutzen.“

 

Im gleichen Jahr, 2004, haben Sie zusätzlich zur Klinik das Transferzentrum für Neurowissenschaften und Lernen, kurz ZNL, gegründet…

„Im ZNL wenden wir Erkenntnisse der Neurowissenschaften an, um Lernprozesse in Kindergärten und Schulen zu verbessern. Wir haben damals eine großzügige Anschubfinanzierung vom Land erhalten, um das Zentrum ans Laufen zu bringen. Mittlerweile sind Klinik und ZNL die effizientesten Einrichtungen im Land: Bezogen auf die Landesmittel sind Drittmitteleuros oder Impactpunkte nirgendwo günstiger zu haben.“

Die Universitätsklinik für Psychiatrie III am Safranberg (vorne links) im Jahr 2011

Was sind heute Alleinstellungsmerkmale Ihrer immer noch vergleichsweise kleinen Klinik?

„International sichtbar sind wir in den Bereichen Neuroimaging und kognitive Neurowissenschaften, aber auch in den Sektionen wird auf hohem Niveau geforscht. Das Transferzentrum gibt es natürlich weiterhin: in einem Projekt in Oberösterreich untersuchen wir derzeit die Auswirkungen musikalischer Früherziehung. Zwar weiß man um die günstigen Effekte der Musik, viele wissenschaftliche Belege gibt es allerdings nicht. Diese wären jedoch wichtig, um die Förderung von Musikschulen sicherzustellen. Die Forschung an der Klinik und im ZNL hängt eng zusammen und befruchtet sich gegenseitig. Es wäre schön, wenn wir eines Tages unter einem Dach arbeiten würden und sich die psychiatrischen Forscher mit den Bildungswissenschaftlern auch ganz informell in der Teeküche austauschen könnten.

Die immer noch geringe Größe der Klinik ist, wie ich finde, kein Nachteil: Ich bin nicht nur Verwalter einer Klinik, sondern sehe jede Woche alle Patienten.“

 

Von der Forschung zur Krankenversorgung: Inwiefern haben sich die Krankheitsbilder in 20 Jahren verändert?

„Als ich vor 35 Jahren angefangen habe, gab es ADHS im Erwachsenalter nicht, und auch eine Borderline-Erkrankung kam einer Kolibri-Diagnose gleich. Heute haben wir eine halbe Station für Patienten mit dieser Störung. Ich weiß nicht, woran diese Zunahme liegt. Vielleicht schaut man noch genauer hin und stellt häufiger eine Diagnose, wenn man eine Erkrankung öfter sieht. Aber auch die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen haben sich natürlich verändert: Neun Stunden täglich vor einem Bildschirm müssen einfach Auswirkungen haben – und da wären wir wieder bei meinem Thema.

Im Vergleich zu 1998 hat sich auch die Behandlung der Patienten gewandelt: Vor allem die Psychotherapie hat an Bedeutung gewonnen. An der Klinik bilden wir pro Jahr 18 Psychologinnen und Psychologen zu Therapeuten aus. Das Interesse ist groß, denn bei uns sehen die angehenden Therapeuten das gesamte Spektrum psychischer Erkrankungen und können parallel promovieren. Wir haben also keine Mühe, begabte junge Leute für unser verhaltenstherapeutisch ausgerichtetes Ausbildungsinstitut AWIP zu finden, insbesondere nach Einführung des Psychologiestudiengangs an der Universität Ulm.“

 

Ist die Stigmatisierung psychischer Erkrankungen in den vergangenen 20 Jahren denn geringer geworden?

„Aus meiner Sicht war das auch in den Anfangsjahren kein Problem. Wir wurden nie als Klapsmühle im Wohngebiet gesehen. Ich habe aber auch von Anfang an Wert auf ein freundliches Ambiente, wie in einem Hotel, gelegt. Bei uns gibt es keine dunkle Pforte und grelles Neonlicht, sondern einen hellen Eingangsbereich, der Patienten wie Besuchern die Angst nimmt. Dieses Konzept hat sich über die Jahre bewährt.“

Artikel in Uni Ulm intern / Juni 1998

Klinikjubiläum im Stadthaus

Das 20-jährige Bestehen der Universitätsklinik für Psychiatrie III ist Anfang Juni im Ulmer Stadthaus gefeiert worden. In Vorträgen am Nachmittag gaben der Ärztliche Direktor, Professor Manfred Spitzer, und seine Mitarbeiter einen Überblick über aktuelle Themen der psychiatrischen Forschung und Krankenversorgung – von ADHS im Erwachsenenalter über Hirnstimulation bei schweren Depressionen bis zum Missbrauch von Psychopharmaka zur Leistungssteigerung.

Beim abendlichen, öffentlichen Festakt würdigte unter anderem der Landesminister für Soziales und Integration, Manfred Lucha, Professor Spitzers Aufbauleistung: „Psychische Erkrankungen können jeden treffen und alleine schafft man es meist nicht, sie zu besiegen. Für diese Patienten ist die Psychiatrische Klinik Ulm seit 20 Jahren da.“ Professor Spitzer sei es gelungen, eine in Forschung, Lehre und Krankenversorgung erfolgreiche Klinik aufzubauen – und auch außerhalb der Universität gesellschaftliche Debatten anzustoßen. Der stellvertretende Leitende Ärztliche Direktor der Ulmer  Uniklinik, Professor Peter Möller, lobte die Klinik als „Leuchtturm bei der Einwerbung von Drittmitteln“ sowie als „national und international bestens vernetzt.“ Klinkdirektor Spitzer sei nicht nur Psychiater, sondern ein Universalgelehrter. Eine Kostprobe seines musikalischen Könnens gab Spitzer, der mehrere Instrumente spielt, im Laufe des Abends. Weiterhin hielt er den Festvortrag „Psychiatrie und Gehirnforschung: Gestern – heute – morgen“. Zusätzliche Grußworte kamen von Manfred Spitzers Bandkollegen am Schlagzeug, Oberbürgermeister Gunter Czisch, sowie vom Ulmer Universitätspräsidenten Professor Michael Weber.

Inspiriert Sie die Arbeit in der Klinik oder im ZNL zu Ihren Buch- und Vortragsthemen?

„Weil ich Kinder habe, habe ich begonnen, mich mit Lernprozessen zu beschäftigen. So kam es schließlich zur Gründung des Transferzentrums für Neurowissenschaften und Lernen und wohl auch zu einigen Büchern. Mein Buch ,Musik im Kopf‘ ist noch heute Pflichtlektüre an vielen Musikhochschulen. Auslöser war eine Vortragsanfrage aus der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie. Was passiert im Gehirn, wenn wir Musik hören oder selbst musizieren? Diese Frage fand ich so spannend, dass ich mich weiter damit beschäftigt habe. Daraus ist 2002 ein dickes Buch geworden.“

 

Helfen die allgemeinverständlichen Vorträge und Bücher dabei, auf Augenhöhe mit Patientinnen und Patienten zu kommunizieren?

„Auch vor den Büchern hatte ich immer gerne Kontakt mit Patienten. Tatsächlich hilft meine Bekanntheit oft dabei, eine Beziehung zu den Patienten aufzubauen. Leute, die mich zum Beispiel aus dem Fernsehen kennen, haben weniger Hemmungen und wissen, dass ich vernünftig mit ihnen spreche und authentisch rüberkomme.“

 

In den vergangenen 20 Jahren haben Sie die Klinik geprägt. Was sind Ihre weiteren Ziele?

„Natürlich ist es einfacher etwas anzufangen, als dauerhaft Qualität zu bieten. Gerade als Universitätsklinik müssen wir auf das sich verändernde Umfeld reagieren. Beispielsweise kann in unserem internationalen Team auch Türkisch und Arabisch mit Patienten gesprochen werden. Für eine wohnortnahe Versorgung haben wir zudem Ambulanzen gegründet. Insgesamt wollen wir nicht zurückhaltend auf gesellschaftliche Veränderungen reagieren, sondern aktiv gestalten. Ich selbst bin noch etwas hier und habe vor, die Klinik bis zu meinem 67. Geburtstag zu leiten.“

Prof. Spitzer bei „SWR1 Leute“

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Text: Annika Bingmann

Fotos: Universitätsklinikum Ulm, Heiko Grandel, shutterstock